Spanische Grippe
Steckrübenwinter und Hungertyphus: Die Spanische Grippe in Kamen und Umgebung

Heinrich Behrends war Biologie- und Geschichtslehrer und leitete 13 Jahre lang die Geschwister-Scholl-Gesamtschule in Lünen. Er hat die Geschichte der Spanischen Grippe in Kamen und Umgebung erforscht. | Foto: Ralf Sänger
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  • Heinrich Behrends war Biologie- und Geschichtslehrer und leitete 13 Jahre lang die Geschwister-Scholl-Gesamtschule in Lünen. Er hat die Geschichte der Spanischen Grippe in Kamen und Umgebung erforscht.
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Der Coronavirus hat uns momentan und vermutlich noch für längere Zeit fest im Griff. Lässt sich die Pandemie mit der Spanischen Grippe vergleichen, die in den Jahren 1918/19 auf der ganzen Welt auftrat und Millionen Todesopfer forderte? Und was wissen wir eigentlich über die Spanische Grippe? Wie hat sie sich in der Region Kamen ausgewirkt?
Heinrich Behrends hat sich mit der Spanischen Grippe in Kamen beschäftigt, aus verschiedenen Gründen. Der ehemalige Biologielehrer und Direktor der der Geschwister-Scholl-Gesamtschule in Lünen ist auch Historiker, und deshalb sowohl am medizinischen als auch historischen Aspekt der Krankheit interessiert. Im Rahmen des Projektes ‚Kamener Arche‘ im Haus der Geschichte in Kamen hat er die Geschichte der Spanischen Grippe in Kamen quasi „nebenbei“ erforscht.
Herausgefunden hat Behrends dabei in erster Linie, dass es für Kamen „so gut wie gar keine lokalen Informationen über die Grippe gab. Die Krankheit war ja nicht meldepflichtig, und deshalb findet sich im Krankenregister des Hellmig-Krankenhauses, heute das Klinikum Westfalen, keine Sterbestatistik zur Spanischen Grippe, obwohl mit Sicherheit sehr viele Menschen hier behandelt wurden und auch gestorben sind. Auch in den Protokollen der Stadtverordnetenversammlung von 1918 lässt sich nicht erkennen, dass die Bürgervertreter sich mit dem Thema beschäftigt hätten.“
Genauso wie bei der aktuellen Pandemie gab es vielen Städten Versammlungsverbote, Gaststätten und Schulen wurden geschlossen. In den einschlägigen Veröffentlichungen der Stadt Kamen oder den Zeitungen ist davon jedoch nichts zu lesen. „Was ich in den alten Zeitungen aus dem Zeitraum allerdings gefunden habe, waren viele Todesanzeigen. „Dort ist aber die Todesursache nicht genannt. Es steht dann in der Regel dort ‚Nach kurzer, schwerer Krankheit verstorben.‘ Die Grippe traf ja in erster Linie junge Menschen etwa zwischen 20 und 40 Jahren.“
Offenbar gab es für das Verschweigen der Krankheit gleich mehrere Gründe: „Die Bevölkerung war geschwächt und kriegsmüde, man wollte die Leute nicht noch weiter verunsichern“, so Behrends. In seinem Buch „Burgmannen, Bürger, Bergleute; Eine Geschichte der Stadt Kamen“ beschreibt der Heimatforscher Klaus Goehrke: „Immer mehr Menschen, besonders Kinder, litten an Mangelerkrankungen. Die Steckrübe wurde als Hauptnahrungsmittel berüchtigt. Karl Goll vermerkte: “Mit Grauen denke ich an das ‚Steckrübenjahr‘ 1917 zurück. Außer Wasser in den Beinen und Gewebeverfall grassierte die ‚spanische Grippe‘. So hatte man uns damals die Krankheit ‚beigebracht‘. Der Volksmund aber sagte: ‚Hungertyphus‘. Die Mädchenschule musste zwei Wochen lang geschlossen werden, wegen der besonderen Gefährlichkeit der Grippe für das weibliche Geschlecht.“
Für Kamen, Bergkamen und Bönen gäbe es keine Statistik, keine Zahlen zu den Todesopfern, so Behrends. Auch wie viele Soldaten letztendlich an der Spanischen Grippe gestorben sind, ist unbekannt: „Es ist gut möglich, dass mehr Soldaten an der Front durch die Grippe gestorben sind als durch Waffengewalt.“
Keine Meldungen mit Infos über die „Spanische Krankheit“ hat Behrends hier und da in der Kamener Presse gefunden. „Man wusste damals noch nicht, was ein Virus ist, und wie die Krankheit verläuft.“ Deutschland befand sich am Ende des Ersten Weltkriegs, viele Nachrichten wurden zensiert, auch in anderen Ländern. Spanien, das nicht am Ersten Weltkrieg beteiligt war, berichtete relativ offen und unzensiert über die neue Seuche, die deshalb die Spanische Grippe genannt wurde.
Ihren Ursprung nahm die schlimmste Pandemie der Neuzeit aber vermutlich in Kansas in den USA. „Heute wissen wir, dass sich ein dem Schweinegrippe-Virus ähnliches Influenza-Virus des Typs A und des Subtyps H1N1 gebildet hat, und zwar durch die Verbindung eines Vogelgrippe-Erregers mit einem menschlichen H1-Virus. Dieses Virus breitete sich, vermutlich durch die Übertragung von einem Rind auf den Menschen in den USA rasend schnell aus, vor allen Dingen in der amerikanischen Armee, die dann Anfang 1918 den Erreger mit nach Europa brachte.“
Die Spanische Grippe wütete in drei Wellen in Europa. Die erste Welle traf Deutschland ab Mai 1918, verlief aber relativ glimpflich. Die zweite erreichte Deutschland ab September 1918 und war deutlich aggressiver. Die Erkrankungen im Herbst 1918 fielen besonders schwer aus. Heute nimmt man an, dass sich das Virus bereits in kürzester Zeit genetisch verändert hatte und das Immunsystem der Betroffenen vor besondere Herausforderungen stellte: Die Betroffenen litten unter hohem Fieber, rasenden Kopf-und Gliederschmerzen. Schwerkranke bluteten aus Nasen und Ohren und spuckten Blut. Aus Sauerstoffmangel liefen sie blau an. Die Medizin stand der Krankheit hilflos gegenüber: Viren wurden erst im Jahr 1933 entdeckt, man glaubte, dass es sich bei dem Erreger um einen Bazillus handelte.
Man kann davon ausgehen, dass etwa 2,5 Prozent der Infizierten starben. Weltweit können das zwischen 22 und 50 Millionen Menschen gewesen sein. Die Infektionsrate war in Deutschland sehr unterschiedlich. Es gab Regionen, die besonders betroffen waren, in denen jeder dritte Einwohner infiziert war, etwas in der Gegend um Mönchengladbach, Schleswig oder Breslau.
Mit der dritten Welle im Frühjahr 1919 schwächte sich der Erreger ab, und ab April 1919 verschwinden auch in Kamen die Todesanzeigen, die auf eine Infektion mit dem Grippe-Erreger hinweisen, mehr und mehr aus den Kamener Zeitungen, erklärt Behrends. „Gut möglich, dass die Spanische Grippe in Kamen glimpflich verlaufen ist“, meint Behrends.

Autor:

Lokalkompass Kamen/Bergkamen/Bönen aus Kamen

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