Wir begleiten "Glücksklee"-Mitarbeiterin Stine Haack auf ihrer Pflege-Tour
Hattingen: Pflege ist mehr als Waschen
Im Dezember 2017 waren 3,41 Millionen Menschen pflegebedürftig. Gut drei Viertel von ihnen werden zuhause versorgt, oft unter Einbezug eines ambulanten Pflegedienstes. Der STADTSPIEGEL für Hattingen und Niedersprockhövel ist mit einer Pflegefachkraft auf Tour gegangen und hat Stine Haack (38) vom Pflegedienst „Glücksklee“ begleitet. Eine Reportage von von Dr. Anja Pielorz.
Manchmal beginnt die Frühschicht bereits um 6 oder 7 Uhr. Heute habe ich Glück und werde um 8 Uhr von Stine Haack erwartet. Dann geht es auch schon los zum ersten Patienten in Hattingen.
Kadir Yildiz wartet bereits. Bei ihm muss der Blutzucker gemessen werden und er bekommt eine Medikamentengabe sowie Insulin. Vor der Wohnungstür stehen Überzieher für die Schuhe – denn eigentlich soll man mit Schuhen die Wohnung nicht betreten. Also blaue Tüten über die Sandalen und klingeln.
Artig stelle ich mich vor und gebe die Hand – ich werde erst nach dem Besuch erfahren, dass ich einen Fehler gemacht habe. Der ältere türkische Mitbürger hätte mir die Hand zuerst geben müssen, wenn er nicht eine andere Form der Begrüßung für angemessener gehalten hätte.
Zur Pflegeausbildung von Stine Haack gehörte auch ein "Kultur-Knigge". Aber er ist trotzdem nett zu mir und erzählt uns den Wetterbericht. „Er ist unser Wetterfrosch und passt immer auf, wie die Wettervorhersage für die nächsten Tage sein wird“, lächelt Stine Haack. Routiniert verabreicht sie die Medikamente, hält ein freundliches Wort bereit und schon geht es weiter.
"Kultur-Knigge" gehört zur Pflegeausbildung dazu
Die nächste Patientin ist Ursula Durek. Auch sie wartet bereits. Stine Haack holt ihren Schlüssel aus der Tasche. „Viele Patienten geben uns ihren Schlüssel, aber wir klingeln natürlich vorher immer“, sagt sie. Ursula Durek muss Kompressionsstrümpfe tragen. Morgens hilft ihr der Pflegedienst, am Abend schafft sie es mit Hilfe eines Schuhanziehers selbst. „Die Eigenständigkeit unserer Patienten ist uns wichtig. Wo es möglich ist, unterstützen wir das“, erzählt Stine Haack. Ursula Durek sieht Stine Haack an und man spürt: Die alte Dame freut sich über die Pflegekraft. Sie begleitet uns langsam zur Haustür und winkt uns nach.
Etwa 15 Patienten, viele in Behandlungspflege, fährt Stine Haack auf ihrer Tour durch das Stadtgebiet ab. Medikamente geben, Insulin, Kompressionsstrümpfe – jeder Mitarbeiter von „Glücksklee“ arbeitet als Bezugspfleger. Das bedeutet, er ist verantwortlich für seine Patienten und hat eine feste Tour.
Stine Haack ist Quereinsteigerin und macht den Job seit vier Jahren. Die alleinerziehende Mutter war vorher geprüfte Technikerin – also was ganz anderes. Doch dann hat sie umgesattelt und ist mit der Entscheidung sehr glücklich. „Wir sind für unsere Patienten viel mehr als Pflegekräfte. Wir sind Begleiter in ihrem Lebensabschnitt. Für manche von ihnen sind wir Ratgeber oder auch das Tor nach draußen, wenn sie selbst ihr Zuhause nicht mehr verlassen können.“ Wenn sich der gesundheitliche Zustand verschlechtert, dann sind sie oft sogar liebevoller Tröster.
„Wir sind für unsere Patienten viel mehr als Pflegekräfte"
In den schwarz-grünen Autos des Pflegedienstes befinden sich Einweghandschuhe, Medikamente und vor allem die Möglichkeit, während der Autofahrt einen Anruf entgegen zu nehmen. Ein Patient wünscht heute keine Anfahrt, ein anderer hat noch den Therapeuten bei sich. Das verschiebt eigene Termine.
Die nächste Patientin ist eine Grundpflege. Zeitintensiv. Und sie ist eine junge Frau, hat gerade ihren 39. Geburtstag erlebt. Melanie Tromnau leidet an MS in der aggressiven Form. Das Immunsystem greift die Hüllschicht der körpereigenen Nervenfasern an.
Die junge Frau war mitten in der Ausbildung zur Tierpflegerin, als sie ihre Diagnose bekam. Die Ausbildung konnte sie noch beenden, in ihrem Job arbeiten nicht mehr. Seit sieben Jahren lebt sie wieder mit ihrer heute 65jährigen Mutter zusammen.
Die Wohnung ist behindertengerecht. Ein Pflegebett, ein Elektrorollstuhl, viele andere Hilfsmittel. Die Patientin muss gelagert und bewegt werden – aus eigener Kraft ist ihr dies nicht mehr möglich. Trotzdem verlässt sie jeden Morgen das Bett, sitzt im Rollstuhl, den sie an guten Tagen mit dem Kinn steuern kann. Der Rest ihres Körpers gehorcht ihr nicht mehr. Manchmal kann sie noch sprechen, manchmal nutzt sie auch den neuen Sprachcomputer, den sie mit den Augen steuern kann. Oft reicht mit vertrauten Personen – ihre Mutter, aber auch Stine Haack – ein Blinzeln der Augen.
Die Arbeit in der Pflege ist körperlich oft anstrengend
Melanie Tromnau ist berührungsempfindlich. Heute bekommt sie im Liegen ihre Haare gewaschen – ich sehe zum ersten Mal, welche Hilfsmittel dafür notwendig sind. Stine Haack arbeitet routiniert. Obwohl es nicht warm ist, schwitzt sie. Die Arbeit ist körperlich anstrengend und ich fühle mich mit meiner Kamera irgendwie fehl am Platze. Melanie Tromnau ist aber mit meiner Anwesenheit einverstanden. Alle Patienten wurden vorher gefragt, ob ich dabei sein darf. Ich warte trotzdem außerhalb des Zimmers, bis sie im Rollstuhl sitzt.
Ich unterhalte mich mit ihrer Mutter, die ihr Leben für die Tochter gibt. Die Einheit der beiden Frauen ist spürbar. Stine Haack bekommt einen frisch gepressten Saft, Melanie Tromnau auch. Ich sehe das Leiden und das, was die junge Frau nicht mehr kann. Sie ist intelligent, schaut oft den ganzen Tag Fernsehen. Serien, aber auch Dokumentationen. Manchmal, an guten Tagen, fahren Mutter und Tochter mit der Straßenbahn nach Hattingen oder Bochum. Und ganz selten fahren sie mit dem Fahrdienst vom DRK zu einem besonderen Event – im letzten Jahr zu „Starlight Express.“
Und dann sagt Stine Haack etwas, das mich sehr beschäftigt: „Melanie nutzt Deo und Parfum. Sie möchte sich als Frau fühlen. Und sie hat wunderschöne Augen und ganz tolle Wimpern. Sie hat ein schönes Gesicht. Das andere blende ich einfach aus.“
Stine Haack liebt ihren Beruf. Sie selbst bekommt Unterstützung von ihren Kollegen und von der Chefin. Aneta Kozera fragt ihre Mitarbeiter immer, wie es ihnen geht. Das ist ihr wichtig und den Mitarbeitern auch.
Nachdem ich in die Welt von Melanie Tromnau schauen durfte, weiß auch ich, dass diese Frage mehr ist als eine Floskel.
Autor:Roland Römer aus Hattingen |
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