Wenn Hasenohren wackeln - eine ungewöhnliche Ostergeschichte.

Lilly war bei weitem nicht prüde - aber von den Männern hatte sie sich in den letzten Jahren etwas zurückgezogen, bis er kam: der neue Nachbar...

Nach dem Auszug ihres Mannes, der seine grosse Liebe entdeckt hatte, lebte Lilly alleine in ihrem kleinen Häuschen mit Garten im hohen Norden an der ostfriesischen Küste. Sie war nun schon Mitte fünfzig und seit zehn Jahren hatte sie keine Umarmung mehr gespürt von einem Mann und war dabei, sich zu entschliessen, niemanden mehr an sich heranzulassen, so frustriert war sie von der Männerwelt.

Neben ihr im Nachbarhaus der Mann machte es ihr auch nicht gerade leicht. Alleine lebte er zwar, aber er hatte viele Freunde, die an den Wochenenden häufig zu Gast waren und dann ihre Musikinstrumente auspackten, um bis tief in die Nacht hinein irische Sauflieder zu grölen oder noch schlimmer, die traurigen Songs von Leonhard Cohen. Die konnte Lilly überhaupt nicht ab, weil sie sich dabei fast die Seele aus dem Leib weinte. Sie fing langsam an, diesen Mann zu hassen, der es schaffte als alleine lebender Mitfünfziger seinem Leben noch so viel Freude und Musik abzugewinnen. Nicht, das sie das auch gerne gehabt hätte – beileibe nicht. Aber unverschämt und rücksichtslos war er schon !

Dieser Nachbar war allerdings nicht nur im musikalischen, sondern auch im esoterischen Bereich aktiv. So interessierte er sich mit zunehmendem Alter immer mehr für die gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg und fing an, in seinem Haus Seminare zu diesem Thema abzuhalten. Aus nah und fern kamen die Teilnehmer angereist und tanzten im Haus des Nachbarn den Giraffen- und den Wolfstanz. Bei beiden Tänzen ist es üblich, sich die entsprechenden Ohren auf dem Kopf anzubringen um nachzuspüren, das man entweder als Giraffe im sanften oder als Wolf im aggressiven Modus ist.

Lilly hatte von gewaltfreier Kommunikation noch nie etwas gehört und wusste auch nicht, was an den Abenden in dem Nachbarhaus vor sich ging, wenn mal wieder einige Autos vor der Tür parkten – man aber ansonsten weder etwas sah noch hörte.

Sie freute sich auf Ostern, auf ihre kleine vierjährige Enkeltochter Friderike und kaufte schon tüchtig für die Kleine ein. Kleine Nester aus Moos bastelte sie und versteckte diese im Garten – so wie sie es als Kind kennen gelernt hatte und am Ostersonntag legte sie morgens in aller Frühe die Geschenke für Friderike in die Nester hinein.

Dann erzählte sie der Kleinen nach dem Frühstück, der Osterhase sei da gewesen – sie solle mal im Garten schauen, was er gebracht habe.

„Du Oma“, sagte die Kleine „ich muss Dir was sagen – es gibt gar keinen Osterhasen !“ Lilly war enttäuscht, hatte sich so viel Mühe gegeben mit dem Herstellen und Verstecken der Nester, mit dem Eierfärben und konnte die Tränen kaum zurückhalten. Sollte alles umsonst gewesen sein ?

„Komm, Friderike, wie gehen mal ans Fenster und schauen in den Garten – vielleicht sehen wir den Osterhasen ja doch“, sagte Lilly ohne grosse Hoffnung in der Seele, das das wirklich eintreten könne.

Dann stand sie mit Fridericke am Fenster und wie zufällig fiel der Blick der beiden auf das grosse Fenster im ersten Stock des Nachbarn.

Dort waren am Fenster fein säuberlich nebeneinander aufgereiht jede Menge Giraffenohren zu sehen. Die dazugehörigen Besitzer sassen nebeneinander auf Stühlen im Seminar des Nachbarn zur Gewaltfreien Kommunikation und lauschten andächtig einem Vortrag über „Kommunikation von Herz zu Herz“. Der war so spannend und herzergreifend, dass die Zuhörer alle ihre Giraffenohren beim Zuhören aufgesetzt hatten, um so nochmal in sich selbst nachspüren zu können, wie friedlich sie demnächst den Menschen gegenübertreten würden.

Von weitem sah es allerdings so aus, als sässen in dem Raum grosse Hasen, deren Ohren nun mit den -Spitzen zu dem Fenster hinauslugen. Auf die Ferne konnte ein kleines Mädchen am Ostersonntagmorgen nicht unterscheiden, ob es sich bei den leicht wackelnden Ohren um Hasen- oder Giraffenohren handelte, zumal es noch nie eine Giraffe aus der Nähe betrachtet hatte.

„Schau, mal Omi, schau mal ! Da sitzen die Osterhasen und wackeln mit den Ohren“ – rief sie und zog die Oma aufgeregt am Arm. Und richtig, nun erkannte auch Lilly, das sich im Nachbarhaus offensichtlich eine Hasenschule befand – die Brille hatte sie in jenem Moment nicht auf der Nase – und sie war einfach nur verblüfft.

Hatte sie den Nachbarn immer unterschätzt ? War er gar nicht so grob, wie sie dachte ? Was ging in seinem Haus wirklich vor ? Sie wurde neugierig und zum erstenmal nach Jahren trat bei ihr der Wunsch auf, den Nachbarn näher kennenzulernen.

Sie sammelte im Garten mit Fridericke die Ostereier auf und dann nahmen beide ein besonders schönes dickes Schokoladenei und brachten es zum Nachbarn. Lilly klingelte und als der Nachbar ihr die Tür öffnete, hielt sie ihm mit strahlender Miene das Schokoladenei entgegen und wünschte ihm „Frohe Ostern“. Nun war es an dem Nachbarn, verblüfft zu sein – aber da er gerade in der Magie der gewaltfreien Kommunkation steckte, hielt er ihr freundlich die Hand hin und bedankte sich herzlich.

Vier Wochen später sang Lilly im Nachbarhaus irische Sauflieder laut mit und konnte Einfluss darauf nehmen, das Leonhard Cohen ab diesem Tag nie wieder gespielt wurde…

Autor:

Karin Michaeli aus Düsseldorf

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