Trautes (Alten)heim

Stellen Sie sich doch einfach mal vor, wenn Sie eines Tages älter sind, könnten Sie Ihre Hände nicht mehr so bewegen, wie Sie es jetzt noch können. Die Finger gleiten nicht mehr über die Tastatur Ihres PCs, um in Windeseile am Abend einen Artikel für den Lokalkompass zu schreiben oder mal schnell einen Kommentar los zulassen. Nein, beim Antippen eines jeden Buchstabens schmerzen die Finger und Sie brauchen mühevolle Stunden, um die doppelt und irrtümlich getippten Buchstaben und Zahlen zu korrigieren, da bei diesem Gewirr auch das beste Rechtschreibprogramm versagt.

Ja und wenn das so ist, dann können Sie auch andere Dinge nicht mehr steuern. Zum Beispiel fällt es Ihnen schwer, die Knöpfe an Ihrem Hemd zu öffnen, die Schnürsenkel Ihrer Schuhe zu binden oder einen Reißverschluss zu schließen. Gut, dann zieht man eben nur noch T-Shirts ohne Knöpfe an, kauft Schuhe zum Hineinschlüpfen und Jacken ohne Reißverschluss oder Sie lassen sie einfach offen. Vielleicht lebt ja auch noch Ihr Partner, der Ihnen hilft oder Sie haben Kinder, die keinen Job haben und sogar noch bei Ihnen wohnen. Und wenn nicht?

Beim Essen gibt es auch Probleme. Sie können das Ei nicht mehr pellen, kein Brötchen mehr aufschneiden und den Deckel des Joghurtbechers nicht mehr abziehen. Sie essen dann eben keine Eier mehr und wählen Ihre Speisen nach der Bequemlichkeit in der Handhabung aus, nicht mehr nach deren Geschmack. Es sei denn, es hilft Ihnen jemand bei diesen alltäglichen Dingen.

Auch mit der Körperpflege klappt das nicht mehr so richtig. Sie sind nicht mehr so gut rasiert wie bisher, die Frisur sitzt nicht mehr so gut wie gewohnt, das Wattestäbchen erreicht Ihr Ohr nicht mehr, weil es schon vorher aus Ihrer Hand fällt. Gut, Sie machen alles langsam, Sie haben ja Zeit und es muss ja nicht alles perfekt sein.

Sie meinen, das sei ja alles furchtbar? So könne man doch nicht mehr zu Hause leben? Sie würden dann ins Altenheim gehen?
Gut, machen Sie das. Ihr Arzt organisiert das auch alles für Sie. Der Heimplatz ist beantragt. Sie müssen warten, denn Heimplätze sind rar. Da haben Sie Zeit zu überlegen, wie Sie den Hausstand einer normalen Wohnung so reduzieren, dass er in ein Zimmer hineinpasst, in dem aber schon ein Bett, ein Tisch, zwei Stühle und ein Schrank vorgegeben sind.

Freitags kommt der Anruf. Sie können am Montag einziehen. Da Sie ja selbst mit Ihren Händen nicht mehr viel bewegen können und sich auch sonst nicht gut fühlen, machen andere alles für Sie.
Der Lieblingssessel findet leider keinen Platz mehr, dafür ist aber eine Kiste mit diversen Kabeln, Steckdosen, Anschlussbuchsen und Antennenkabeln mit umgezogen, die Ihnen zwar immer lieb und teuer waren, die Sie aber jetzt nicht mehr auseinandersortiert bekommen und auch nicht mehr brauchen.

Gut, sagen Sie, damit kann man leben. Hier ist man nämlich wenigstens besser aufgehoben als zu Hause, hier sind ja Leute, die alles für Sie machen. Nun ist die Welt wieder in Ordnung. Alle sind sehr nett zu Ihnen, wunschgemäß bringt der Azubi Ihnen das Essen aufs Zimmer, weil Sie sich nicht mehr trauen, in der Öffentlichkeit zu essen, da Sie befürchten, dass etwas daneben geht und das ist Ihnen peinlich.
Bald weiß er auch, dass er Ihnen den Joghurtbecher öffnen muss, stellt den Becher dann aber an eine Stelle, die Sie schlecht erreichen können, Sie sind sauer, denn jeder Schritt macht Mühe.
Klar, Sie sollten es ihm sagen, aber das Reden fällt Ihnen auch immer schwerer und nimmt Ihnen die Luft zum Atmen weg. Und wenn Sie gerade angesetzt haben, etwas zu sagen, dann ist er schon wieder aus dem Zimmer. Abgesehen davon war es ja auch bislang nicht Ihre Art, andere um Hilfe zu bitten. Sie waren immer eine selbstständige Person, die eher für die anderen da war als umgekehrt. Und nun müssen Sie darum bitten, dass man Ihnen Wasser aus der Flasche ins Glas gießt, weil die Flasche zu schwer ist, das Brot muss klein geschnitten werden, die Brille müsste mal geputzt werden, Sie brauchen eine neue Zahnbürste. Auf der Fernbedienung des Fernsehers haben Sie die falsche Taste gedrückt, Sie bekommen nur noch WDR 3. Fenster auf, Fenster zu, Rollladen rauf, Rollladen runter. Immer nur bitten, fragen, Wünsche äußern.

Und Sie waren immer so selbstständig.

Können Sie sich so etwas vorstellen?

Autor:

Birgit Schild aus Düsseldorf

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