Hey, es ist Freitagnachmittag und ich kann nicht mehr...

Die ganze Woche habe ich schwer gearbeitet – endlich ist es Freitagmittag und ich habe frei. Die Idee vom fitneßstudio verabschiedet sich mal wieder – wie immer – von alleine. Der Hunger ist größer – und die Gier nach Großstadt überdimensional.

Ich lebe in der Großstadt Düsseldorf, die aber in der Altstadt eher ein Dörfli ist. In dieser Altstadt existiert in der Fußgängerzone seit Jahrzehnten das Café Madrid und um die Ecke das Kino „Cinema“. Mein größtes Freitagsmittagsvergnügen besteht darin, zu sündigen. Statt sich abzuarbeiten im Fitneßstudio, im Cafe Madrid ein Fischgericht zu sich nehmen mit einem weißen Hauswein – am hellichten Tag ! - Und danach um 15.00 Uhr in die Nachmittagsvorstellung im Cinema-Programmkino. Egal, was läuft.Das ist das echte Verwöhnprogramm !

Oh, da habe ich schon einige gute Filme gesehen – aber auch einige schlechte. Aber egal: Es ist Freitag und ich habe endlich frei und es reichen mir die bunten Bilder von schönen Menschen und Landschaften. Manchmal habe ich natürlich auch Glück und darf mir was wirklich tolles anschauen, so wie Monsieur Claude und seine Töchter. Aber heute waren es nur zwei Rentnerpaare, die an der Cote d'Azur einen Diamanten klauen, frei nach den Vorlagen von Monsieur Cloussaud-Filmen mit dem rosaroten Panther – gedreht in der Gegenwart. Schöne Bilder, schöne Rentner und mittendrin im Geschehen ich ! Ich auch als schöne Halbrentnerin. Weil: Ich werde niemals Rentnerin sein – meine Generation muß dank Euroumstellung bis zum Umfallen arbeiten – und das tun wir ja alle sehr gerne – zumindest reden wir uns das ein.

Deshalb schmeckt ja nach einer Woche Fron das Weinchen im Cafe Madrid vor der Filmausführung so besonders gut. Aaach: endlich frei ! Nach Ende des Films ist das Café Madrid immer noch da und verspricht abendliche Freuden.

Aber ich bin tapfer, entsage den leiblichen Freuden und setze mich in der Altstadt auf eine Bank am Straßenrand und beobachte konzertante Aufführungen. Eine asiatisch ausschauende schöne junge Frau mit Mandelaugen singt a capella wunderschöne Arien aus bekannten Opern: die Violetta aus Verdi's „Traviata', die Königin der Nacht aus Mozarts „Zauberflöte“. Es ist Wahnsinn: sie beherrscht die Töne bis in den Himmel hinein – und bekommt nicht einen Cent. Welch eine Talentenverschwendung, welch eine Entäuschung für die Sängerin. Eine ältere Dame erbarmt sich ihrer und legt fünf Euro in den Hut.

Dann kommt der „Rocket-Man“, wie ich ihn immer nenne. Ein begnadeter Bluessänger mit lauter Stimme und lauter Gitarre mit Hut auf dem Kopf begeistert die Straße mit seinen Songs. Trauben bilden sich um ihn und spenden ihm jede Menge Euro. Mein Banknachbar verneint die Spende an ihn mit den Worten, er habe vor fünf Wochen schon mal was gegeben. Das möge verstehen wer will. Wenn mein Arbeitgeber mir mit diesem Bemerken den Lohn verweigern würde, zöge ich zum Arbeitsgericht. Das können die Straßenkünstler leider nicht tun.

Und während ich nach seinem Abgang noch hinter meiner mich mafiös ausschauen lassenden Rasterbrille darüber sinniere, ob ich im Alter anfangen soll zu kiffen, oder ob ich in eine Senioren-WG ziehen soll oder doch lieber es drauf ankommen lassen soll, was passiert, taucht ein älterer Herr auf mit einer Geige.

Sorgfältig nimmt er Platz auf seinem kleinen Hocker, während ich noch darüber nachdenke, ob eine Partnerschaft im Alter noch Sinn macht. Ältere Herren, die nach Frauen suchen, sind so sonderbar. Mit ihren dicken Weizenbierwampen und ihren Plattfüßen suchen sie häufig die perfekte Frau. Eine, die selbstverständlich jung ist und knackig mit runden Popobacken und einem Apfelbusen. Die sind uns älteren Damen ab Ende vierzig gegenüber schon sehr kritisch eingestellt.

Ja, ich habe es ja selbst gehört im Cafe Madrid auf der Terrasse. Da saßen zwei so Opas ab Sechzig aufwärts. Die taxierten die Frauen und waren in ihren Bewertungen den Damen über vierzig gegenüber schlimmer als Dieter Bohlen bei seinen Castingshows. Die waren unerbittlich in ihren Bewertungen – und ich konnte mir das bei meinen gebackenen kleinen Sardinen alles anhören als Voyeurin bis mir schliesslich der Kragen platzte und ich die beiden fragte, ob sie ihre Rollatoren mal ein wenig beiseite schieben könnten – ich wolle mal vorbei zum Spiegel mich richten.

„Kommt runter Opas“, dachte ich nur und entwickelte beim abschließenden Espresso wundersame Phantasien über das Leben im dritten Ruhestand. Senile Männer sah ich vor mir zitternd an ihren Rollatoren durch die Flure der Seniorenresidenz schlurfen – unbeachtet von der Welt. Und unbeachtet von mir – har !

Ich würde mit gleichaltrigen Damen vielleicht eine Band gründen. Bestimmt liessen sich noch Damen finden, die Saxophon spielen, oder Drums, oder Piano – Gitarre mache ich ! Und dann sehe ich diese Band vor mir, höre, wie wir „born to be wild“ spielen und ein Lächeln geht über mein Gesicht.

Der Geigenmann ist mittlerweile beim Publikum angekommen. Eine Familie mit einem süßen dreijährigen Jungen steht vor dem Meister und der Junge tanzt zu den Klängen, geht auf den Geiger tänzelnd zu. Und jedesmal, wenn die Familie mit dem Jungen weitergehen will, schreit er herzzerreissend: Er will dem Geigenmann lauschen, mit ihm tänzeln, dabei sein. Er wird bestimmt mal ein großer Virtuose auf dem Streichinstrument.

Nach dem fünften Stück hat der kleine Junge genug. Er bestimmt jetzt, das die Familie weitergeht und schaut sich beim Abschied nicht einmal um. Und ich denke an Rilkes Gedicht, in dem er schreibt:

Du mußt das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und laß dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen
von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken läßt.

Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.

Und so war dieser kleine Junge – er nahm die Geigenblüten an, genoß sie und ging einfach weiter zu den nächsten Blüten hin.

Ich mußte plötzlich hinter meiner schwarzen Rasterbrille, die ich temporär trage, um meine Linsen zu trainieren, schrecklich weinen. Die Tränen liefen mir ohne Ende – es war Freude in diesen Tränen, aber auch viel Wehmut und vor allen Dingen Sehnsucht. Es war die Sehnsucht, nicht hinter diesem kleinen Jungen hergehen zu können als Schatten sozusagen, nicht mehr erleben zu können, was ein Kind erlebt. Sich dort angelangt zu sehen, wo man überlegt, ob man beizeiten – na Sie wissen schon – ob man beizeiten seine Patientenverfügung macht usw.

Dabei wird der kleine Junge es bestimmt nicht einfach haben, vielleicht schwerer noch als ich in meiner Kindheit und Jugend, weil doch alles auf der Welt so chaotisch ist. Aber dennoch – so wie dieses Kind die Blüten aufsammeln, sie loslassen kann und weitergehen – ach wie gerne würde ich das wieder können. Dabei hafte ich doch freitagsmittags so fest an an diesem Cafe Madrid und den Nachmittagsfilmen nach dem Glas Wein. Hafte an den Ritualen – nur weil Wochenende ist. Dabei könnte doch alles so leicht sein, wenn ich einmal nur vor dem Geigenmann tanzen würde, um ihn sogleich zu verlassen – hin zur nächsten Musik hin zum nächsten Tanz. Ohne zu wissen, wo und wann das sein wird. Einfach nur leben ins Ungewisse - ohne Gedanken, ohne Angst... Das wäre schön !

Autor:

Karin Michaeli aus Düsseldorf

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