Fenstergeschichte
Der November hatte sich in diesem Jahr als Frühling verkleidet und gab mit seinen langen Sonnenstrahlen alle Fehlbarkeiten einer berufstätigen Hausfrau gnadenlos preis.
Die Staubmoleküle tanzten fröhlich der Herbstsonne entgegen und die Fenster trugen noch die Regentropfen des Sommers in den Augen.
Das konnte doch so nicht bleiben. Einen ganzen kalten Winter lang.
Mit diesen trüben Gedanken und dem Putztuch in der Hand verweilte sie einen kurzen Moment am Fenster, als sie das junge Paar über die Straße gehen sah. Sie lachten und küssten und küssten und lachten. Die Hände gingen auf Reisen und die Schritte wurden immer langsamer. Mitten auf der Straße blieben die Beiden stehen und vergaßen die Welt. Ein langer, ein wundervoller Kuss muss es wohl gewesen sein, als die Autos in ein warnendes Hupkonzert verfielen.
Das Mädchen warf den Kopf in den Nacken und ließ die Haare im Wind flattern, lachte sich Richtung Himmel und nahm den Jungen auf ihre Arme und trug ihn über die Straße auf den rettenden Bürgersteig. Dort setzten sie sich erst mal hin, um sich auszuschütten vor Lachen und sich wieder und wieder zu küssen.
Welch eine wunderbare Szene, dachte sie, und ein Lächeln überflutete ihr zuvor noch so ernstes Gesicht. Wie lange war das her, dass sie so jung und unbekümmert den Verkehr zum Erliegen brachte und einfach nur das tat, wonach ihr der Sinn stand? Küssen und lieben und lieben und küssen. Mitten in der Rush Hour auf einer Hauptverkehrsstraße. Wie lange war das überhaupt her, dass sie so frisch verliebt und unbekümmert alles um sich herum vergessen konnte?
Tage, an denen sie einfach blau machte, um mit ihrem Liebsten im Bett zu frühstücken.
Nächte, in denen der Schlaf so nebensächlich war wie eine Steuererklärung.
Es war zu lange her, als dass sie noch eine klare Erinnerung dazu hatte.
Ihr Blick suchte erneut das Paar auf der Straße.
Doch die zwei Verliebten waren längst weiter gezogen.
Küssend, lachend, raufend.
Sie schmiss den Putzlappen in den mit Wasser befüllten Eimer, riss die Jacke von der Garderobe und eilte den Novembergedanken davon.
Raus in die Sonne, weg von schmutzigen Fenstern und ihrem Perfektionismus.
Sie gab dem Gefühl nach, jetzt dringend mitten auf der Kreuzung in die Luft zu küssen und den Verkehr zum Erliegen zu bringen.
Der Haushalt konnte warten.
Ihretwegen einen ganzen Winter lang.
Autor:Annette Kallweit aus Düsseldorf |
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