Eine Nikolausfeier
Hätte die kleine Hilde ihre Empfindungen damals schon besser auszudrücken vermocht, dann wäre das Haus mit den vielen Fenstern, dem weiten Innenhof und den angrenzenden Stallungen und Gärten bestimmt als ihre Burg von ihr beschrieben worden, eine Burg, wie es sie in der Nähe tatsächlich gab, und von der ihr der Vater erzählt hatte, dass sie von der Schwester eines Kaisers mit einem roten Bart erbaut worden war.
Kaiser gab es in ihrer Sippe mit Sicherheit nicht, aber ein wenig hochherrschaftlich ging es trotzdem zu. Das war der Großmutter zu verdanken, die tapfer versuchte, aus dem, was der Krieg der Familie belassen hatte, eine gewisse Tradition aufrecht zu erhalten, zu pflegen und weiterzugeben. Ihre Güte verbarg sie hinter einem schlichten, schwarzen Kleid, einer sehr aufrechten Haltung und einer strengen Mimik. Und doch wusste jeder, dass sie die Seele und der Halt dieser familiären Gemeinschaft war.
Zu Großmutter gehörte Großvater, vor dem Krieg und dank Großmutters Erbe ein mehr oder minder erfolgreicher Fabrikant. Auf seinen prächtig nach oben gebogenen Schnäuzer war er genau so stolz wie auf seine zahlreichen Söhne. Seine einzige Tochter, die Mutter der kleinen Hilde, hatte es hingegen zeitlebens schwer gehabt, der männlichen Übermacht dieser Familie Paroli zu bieten. Dennoch war sie es neben der Großmutter, die während der schweren Kriegszeiten die Firma und die Familie am Leben hielt. Mädchen zählten nicht, und das ließen auch die Brüder ihre einzige Schwester spüren. Umso erstaunlicher war es, dass es dann der kleinen Hilde gelungen war, das Herz des Großvaters zu erobern, obwohl es in diesem Haushalt genügend männliche Enkel gab, denen er seine Zuwendung hätte schenken können.
Es war die kleine blondlockige Hilde, die er fest an der Hand nahm und mit der er durchs Haus, zu den Stallungen und in den großen Nutzgarten spazierte. Dieser Garten war eigentlich die Domäne der Großmutter, sozusagen ihr Heiligtum und ihre ganze Freude. Sie machte fast die gesamte Arbeit darin allein, selten sah man sie ohne einen Korb am Arm, in den sie hier eine Birne und dort einen Apfel oder einen Salatkopf legte, und immer tat sie das mit Sorgfalt und Bedacht. Und wenn sie vorsichtig eine voll erblühte Rose dazu legte, dann gaben ihre sonst so strengen Gesichtszüge plötzlich eine Ahnung davon, dass nicht nur die üppige Mitgift den Großvater ungestüm um diese Braut hatte werben lassen.
Ganze Regalreihen mit Eingemachtem zeugten davon, dass unter Mithilfe von Minna auch die letzte Frucht zum Nutzen der großen Familie eingeweckt, eingemacht, gemostet oder zwecks Lagerung auf den Dachboden verbracht wurde. Diese Minnas kamen aus solidem Hause und lernten von Großmutter “Haushaltsführung”, um für eine spätere Ehe gut gerüstet zu sein. Ohne das sorgfältige Lagern und Horten der geernteten oder gesammelten Lebensmittel hätten die Frauen sich, die Familie und viele Nachbarn, Flüchtlinge und andere Zugereiste nicht über die mageren Kriegszeiten gerettet. Deshalb gedachte Großmutter es auch in den Nachkriegsjahren so zu halten, denn obwohl es bereits wieder Essbares zu kaufen gab, war Schmalhans vielerorts auch lange Jahre nach Kriegsende noch Küchenmeister, und vor allem der Mutter der kleinen Hilde konnte man “das Vaterunser durch die Rippen blasen“, wie ihre Brüder oft spotteten.
Für die Kinder der Brüder, die mit ihren Frauen ebenfalls im Haus lebten, war Hethel zuständig, vor allem aber für die kleine Hilde. Denn auf diese musste besondert geachtet werden, weil sie manchmal „schnauft". Damit beschrieb man unbekümmert, dass Hilde häufig nicht genug Luft bekam, dass sie nicht so rennen und Treppen steigen konnte wie ihre wilden und ungestümen Cousins. Mutti und Vater sagten dazu Bronchialasthma, aber das war natürlich viel zu umständlich. Hilde hasste es, wenn man sagte: "Du schnaufst", und vor allem Paul verwendete diese Worte als Waffe, wenn er ihr ansonsten nicht mehr beikommen konnte. Hilde verpasste ihm bisher jedes Mal, wenn sie seiner habhaft werden konnte, eine Kopfnuss, aber seit Vater ihr gesagt hatte, dass die vielen Kopfnüsse, die Paulchen sich auch von anderen einfing, ihm schaden würden, war sie dazu übergegangen, ihm kleine, feste Tritte vors Schienbein zu setzen. Diese hatte Vater schließlich nicht ausdrücklich ausgeschlossen.
Die Stimmung an dem Tag, von dem hier die Rede ist, eine Mischung aus Angst und Freude, war sicher nicht nur auf die mahnenden Zeigefinger der Erwachsenen zurückzuführen. Es lag auch an diesem Duft, der das ganze Haus erfüllte, an einer unbeschwerten Heiterkeit der Erwachsenen. Es wurde nämlich eifrig gebacken, gebraten und gekocht, weil ein Fest ins Haus stand, welches Großmutter für alle Angestellten in Haus und Hof und für deren Familien eingeführt hatte, nämlich eine Nikolausfeier. Dies war im protestantischen Thüringen eigentlich nicht Brauch, aber für einige der Russen, die der Krieg oder auch die neue Zeit zu ihnen verschlagen hatte, war es das reine Glück, ihrem Nationalheiligen huldigen zu dürfen. Zu späterer Stunde und nach einer ordentlichen Grundlage würde natürlich auch ihrem Lieblingsgetränk die entsprechende Beachtung zukommen, dafür sorgte schon Großvater, aber dann würden die Kinder längst im Bett sein und auch die Großmutter würde sich diskret zurückgezogen haben.
Zunächst aber harrten sowohl die Kinder der Familie als auch die Kinder der Mitarbeiter geschniegelt und gestriegelt in froher Erwartung in der großen Stube, die nur an diesem Tage und an Weihnachten geheizt wurde, der Dinge, die da kommen sollten. Das würde in diesem Falle der heilige Nikolaus sein. Da würde sich zeigen - und das wurde selbst dem kleinen Gerdchen beklommen klar -, ob wirklich alle guten und schlechten Taten akribisch im goldenen Buch verzeichnet worden waren.
Die ungewohnte Umgebung und die festliche Kleidung schüchterten alle ein wenig ein. Es rumpelte an der Tür, aber Großvater nickte allen Kindern beruhigend zu. Der Nikolaus mit dem prächtigen weißen Bart zeigte sich dann aber wie immer gnädig und verteilte seine bescheidenen Gaben - Äpfel, Nüsse, Plätzchen, bunte Zuckerkringel.
Als er die kleine Hilde aufrief und ihr einen besonders glänzenden, rotwangigen Apfel überreichen wollte, rief diese laut: “Och, Äppel, Äppel hammer selber. Nimm den nur wieder mit.”
Die Schultern des Nikolaus zuckten, der riesige Schnäuzer des Großvaters zitterte, die Frauen kicherten, und ehe noch Großvater in ein unbändiges Gelächter ausbrechen konnte, klappte die ältliche Tante Änne den Klavierdeckel hoch, vergriff sich vor Aufregung in den Noten und spielte hektisch "An der Saale hellem Strande". Gerdchen machte vor Begeisterung in die Hose, was unverzüglich Hethel auf den Plan rief, die dafür zu sorgen hatte, dass alle Kinder so rochen und aussahen, dass man es neben ihnen aushalten konnte.
Großmutter behielt, wie immer, die Contenance und verkündete, dass angerichtet sei. Und irgendwie geriet dieser Festschmaus, für den manche Gans ihr Leben hatte lassen müssen, und für den Unmengen von rohen Klößen und Rotkraut zubereitet worden waren, zum fröhlichen Höhepunkt, ehe auch nur ein Tropfen des hochkarätigen Gebräus aus Kartoffeln geflossen war.
© Text und Foto Ingeborg Hübenthal / Mirte
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig
Autor:Mirte Rübe-Zahl aus Düsseldorf |
14 Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.