Dicker als Wasser

Eine kleine Vorweihnachtsgeschichte

Sicher. Vieles lässt sich mit dem Alter erklären: Starrsinn, Griesgrämigkeit, Haare an Stellen, wo früher keine waren, beispielsweise auf den Zähnen, aber eigentlich habe ich auch in jungen Jahren nie etwas anderes über sie gehört. Ich mochte sie trotzdem immer. Mag sein, dass sie ein paar Züge der alten Witwe Bolte hatte, aber der Name passt nicht. Sie heißt Helene. Und sie ist meine Tante.

Viel weiß ich nicht von ihr, vielleicht, dass ihr Haus immer offen stand – im wahrsten Sinne des Wortes. Und dass ich sie, wie ihre eigenen Kinder auch, tunlichst zu Siezen hatte, weil sie nun einmal in einem Landstrich zuhause ist, wo diese Form des Respekts den Älteren und dem Allmächtigen gegenüber eine Selbstverständlichkeit war.

Ich fand das eigenartig, aber ich dachte mir weiter nichts dabei. Wie bei so vielen Dingen, die geschahen, ohne dass ich die Zusammenhänge gesehen hätte. Später, als die Fragen auftauchten, war es zu spät zum Fragen, weil die Antworten, die es ohnehin nie gegeben hatte, verschüttet waren unter Altlasten, für die die nächste Generation immer zu jung bleiben würde.

Auf der Flucht vor dem Weihnachtsgedöne begebe ich mich, gegen den Strom der Reisebusse, die sich wenig später auf einem der „busparkeerplaatsen“ in Weihnachtsmarktnähe einfinden werden, in Richtung Holland. Zehn Jahre habe ich sie nicht mehr gesehen und es hat mir an nichts gefehlt. Vielleicht tue ich es für meine Lieblingscousine, immerhin ist es ihre Mutter, aber je näher ich dem in die Jahre gekommenen Haus meiner Tante komme, umso mehr merke ich, dass es hier sehr wohl um mich geht.

Die Tür geht auf, da steht sie. Sie trägt den Namen „bucklige Verwandtschaft“ zu Recht- sie ist jetzt um Einiges krummer als ich sie in Erinnerung habe. Wir nehmen uns kurz in den Arm und fahren in ein nahe gelegenes Lokal. Aktuelles wird erzählt, als wäre ich ein Teil ihres Lebens. Auch ein paar alte Erinnerungen werden hervorgekramt, behutsam, damit sie nicht zu Schaden kommen. Sie liegen vor uns, als wäre es gestern gewesen und bekommen damit neue Relevanz.

Nach knapp drei Stunden stehen wir wieder vor dem alten Haus. Ich drücke sie zum Abschied so fest, dass ich fürchte, die alte Frau könnte in tausend Einzelteile zerfallen, sobald ich sie wieder loslasse. Also drücke ich sie noch ein bisschen länger. Ganz langsam löse ich meine Umarmung, halte sie noch einen Moment auf Abstand und steige dann zu meiner Cousine ins Auto.

Wie immer eigentlich, wenn wir gemütlich zusammenhocken, kommt irgendwann unvermeidlich die Frage auf: „Was war da los?“ Wie immer wissen wir, dass es darauf nie eine Antwort geben wird. Es spielt für uns auch keine Rolle mehr.
Weitab von den „busparkeerplaatsen“, abends bei Tapas und Wein, meldet sich in mir erstmals so etwas wie vorweihnachtlicher Frieden.

Autor:

Femke Zimmermann aus Düsseldorf

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10 Kommentare

Klaus Ahlfänger aus Herten
am 16.12.2013 um 18:42

Das Ganze erinnert mich an ein Mikado-Spiel, bei dem jeder bemüht ist, nicht das Stäbchen herauszuziehen, welches die Zufallskonstruktion zum Einsturz bringen könnte. Die Kommunikationsfelder sind abgesteckt und jeder spielt die Rolle, die von ihm erwartet wird und bedient somit die ihm anhafteten Vorurteile. Schön, dass das dünne Eis drei Stunden lang den offensichtlich vorhandenen Altlasten standgehalten hatte Und in der Abschiedsszene erkenne ich bei dir ein gewisse Ambivalenz: Du drückst deine Tante fest und lange, um sie dann fast übergangslos einen Moment auf Abstand zu halten.

Unmännlich - muss ich eingestehen, dass mich die Schilderung van "uw" reis in de verleden tijd sehr berührt hat. Und mit dem Lob mache ich es mir dieses Mal. bequem. Haben sich doch unter deiner einfühlsam geschriebenen Geschichte ausnahmslos Autoren/Innen versammelt, deren Kommentare ich "eins zu eins" übernehmen kann.

Gottfried (Mac) Lambert aus Goch
am 16.12.2013 um 21:33

... hallo Klaus, schön, mal wieder etwas von Dir zu lesen ...

Und ja, Femkes Gedanken zur lieben Verwandtschaft lassen sich endlos weiterspinnen.
In unserem Nachbarland gibt es auch noch den treffenden Ausdruck " familie van de koude kant".

Paul Scharrenbroich aus Monheim am Rhein
am 01.08.2014 um 19:28

...und ich kuck Schwäne und Schwebfliegen

Ist das schön, einen solchen Text - wenn auch mitten im Jahr - zu entdecken.
Klaus sei Dank. LG