Auszeit

abseits des großen Tourismus: die Haar-Alm

Sie ist eine Studienfreundin.
Damals teilten wir uns ein Bad.
Es ist eine Ewigkeit her. Seitdem ist viel passiert und unsere Wege haben uns in sehr unterschiedliche Richtungen geführt.
Heute sind es wesentlichere Dinge, die uns verbinden.

Ich brauche eine Auszeit von den Themen meines Alltags, genau deshalb frage ich SIE, weil es garantiert andere Themen sind, die sie beschäftigen.
Sie bucht uns eine Ferienwohnung in Bayern und kümmert sich um die Details. Ich schmeiße ein paar Klamotten in eine Reisetasche und fahre einfach los.

Ich bin dann mal weg! Ohne Vorkochen, ohne Vorputzen, einfach weg.

Die Fahrt ist kurzweilig:
Wir reden. Ich weine. Ich höre zu. Sie redet. Wir lachen. Sie hört zu. Ich rede. Wir verstehen uns, wie immer, auch wenn alles anders ist als sonst und nichts mehr wie früher.

Bayern ist traumhaft schön!
Wir wandern im selben Tempo, der Anstieg ist uns motivierende Herausforderung, mehr als alles andere. Man könnte vor der majestätischen Kulisse auch still werden, wir wollen das heute nicht.
Wir brauchen kein Fleisch zum Mittag, aber in Sachen Durst vergessen wir gerne, dass wir Mädels sind.
„Hast Du Muskelkater?“
„Nee.“
„Ich auch nicht!“

Alles passt.

Am vierten Tag verschlägt es uns auf die Haar-Alm. Nach drei Tagen wortreicher Aufstiege verschlägt es uns hier, abseits des großen Tourismus, vor Ehrfurcht doch noch die Sprache. Der Widerhall einer Flügelposaune in den gegenüberliegenden Bergen ist Balsam für die leicht strapazierten Ohren. Nach der zweiten Runde Schnaps des Sennen müssen wir erkennen, dass der Posaunist doch kein Engel ist: Er hat sich in wahrer Menschengestalt zu uns gesetzt und trinkt ein Bier, das auf wundersame Weise in einem Subaru-Allrad den Weg hier hinauf gefunden hat.
Das lässt für den Himmel hoffen.
Ein Ehepaar aus Karlsruhe gesellt sich noch dazu.
Viel passiert nicht. Es braucht nicht mehr.

Nach einer weiteren Runde Schnaps traue ich mich, den verkappten Engel zu fragen:
„Kannst Du ‚Großer Gott wir loben Dich‘?“
Spätestens hier verrät er sich: „Na." und dann: "Sing Du, I schpui dann scho.“
Ich singe los. Der Fremde aus Karlsruhe stimmt ein, er findet das Lied offenbar auch gut und tatsächlich ab Strophe zwei „schpuit“ der Engel fehlerfrei.
Die Aufrichtigkeit der Herzen fließt hier in ihrer hörbaren Unvollkommenheit zusammen zu einem Lobgesang, der vollkommener kaum sein kann.
Ich brauche noch ein Bier, damit ich mich an den Abstieg wage:
Bergab bin ich eine Memme.

Hier würde ich den Bericht gerne beenden:
Die kleine Auszeit war unvergesslich schön. Punkt.
Damit würde ich aber Tag fünf bis sieben unerwähnt lassen. Das wiederum wäre verschwiegene Unvollkommenheit und damit alles andere als ein Lobgesang.
Mit dem plötzlichen Wetterumschwung sinkt auch die Stimmung.
Plötzlich knallen unsere unterschiedlichen Welten aufeinander.

Wir reden. Ich weine. Ich höre zu. Sie redet. Wir lachen nicht mehr. Sie hört zu. Ich rede an ihr vorbei. Wir verstehen uns nicht mehr, weil alles anders ist als sonst und nichts mehr wie früher.
Wir reden uns um Kopf und Kragen, bis das Gespräch vollends verstummt.
Es ist sehr traurig.
Nach einer Heimfahrt eisigen Schweigens, ist es Erleichterung, als die Zeit aus ist und unsere Wege sich wieder trennen.

In der Bahn Richtung Heimat komme ich mit einem freundlichen Stuttgarter ins Gespräch. Er hebt anerkennend die Brauen, als ich ihm erzähle, dass ich gerade von einer einwöchigen Auszeit mit meiner Freundin komme.
“EINE WOCHE, so eng aufeinander??? Das ist lang.“
Mir fällt ein Stein vom Herzen.

Was bleibt ist große Dankbarkeit für eine absolut vollkommene Woche und die Hoffnung, dass wir uns früh genug wieder verstehen werden, um erneut eine Auszeit von den Themen unseres jeweiligen Alltags zu wagen.

Weil es nicht mehr so ist, wie es beim Abschied noch war.

Autor:

Femke Zimmermann aus Düsseldorf

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