Altern in Würde
Dr. Mimoun Azizi - "Celler Geriatrie zum Leuchtturmprojekt machen"

CELLE. Niemand kann ihm und all seinen Begleiterscheinungen entkommen, es sei denn, der Tod ereilt in jungen Jahren. Alle anderen können ab einem gewissen Geburtstag, der sicher individuell variiert, mitreden, wenn es um den Prozess des Älterwerdens geht. Langsam Abschied nehmen von so vielem, das selbstverständlich erschien und nun schwindet – Attraktivität, Leistungsfähigkeit, Beweglichkeit, Gesundheit.

Letzterem gehört die volle Aufmerksamkeit von Dr. Mimoun Azizi, und zwar für die Patientengruppe gleich und älter 65 Jahre, deren Anteil an der deutschen Bevölkerung immer höher wird. „Die Neurogeriatrie ist die Fachrichtung, die bundesweit am stärksten wächst“, berichtet der Mediziner, der seit September 2021 Chefarzt der Klinik für Geriatrie und Neurogeriatrie im Allgemeinen Krankenhaus (AKH) Celle ist. „Überall, in sämtlichen Abteilungen, die Ausnahme bilden naturgemäß die Pädiatrie und Gynäkologie, sehen wir es: Die Patienten werden älter, die Rate der über 65-Jährigen steigt.“

AN NEUESTE STANDARDS ANGEPASST

Der 50-Jährige ist aus Düsseldorf nach Celle gekommen, weil „ich hier eine Chance sehe, meine Ideen einzubringen, um etwas Neues aufzubauen“. Er hat begonnen, die Altersmedizin im AKH den neuesten Standards anzupassen, was gleichzusetzen ist mit einer erheblichen Veränderung und Erweiterung. Ältere Menschen behandeln heißt, intensiver als in anderen Altersgruppen fächerübergreifend zu agieren. Herzinsuffizienz und Parkinson, Depressionen gepaart mit körperlichen Beeinträchtigungen seien beispielsweise ein großes Thema. „Wir arbeiten hier im AKH sehr gut zusammen mit den einzelnen Abteilungen“, berichtet der Arzt, auch von Vorstandsseite sieht er sich sehr gut unterstützt.

Der Geriater, Neurologe und Psychiater hat Ambulanzen eingerichtet, und damit eine Anlaufstelle bei Schmerz, Schwindel, Gedächtnisstörungen und weiteren Symptomen. „Wenn der Eindruck von Vergesslichkeit entstanden, man unsicher geworden ist, ob der Rahmen des Normalen überschritten wurde, dann ist unsere Gedächtnisambulanz die richtige Adresse.“ Auch für Schmerz und Demenz stehen Ambulanzen zur Verfügung. Termine sind innerhalb von 14 Tagen zu erhalten (Privatpatienten können auch jünger als 65 Jahre sein). Azizi kooperiert bei der Betreuung seiner Patienten eng mit den Hausärzten. „Dieses läuft gut, in regelmäßigen Abständen reichen wir Berichte ein.“ Allein die medizinische Therapie helfe jedoch nicht. „Wer zu uns kommt, dem empfehlen wir ein Programm, das wir individuell zuschneiden – Sport einmal pro Woche, z.B. bei Parkinson Nordic Walking, Entzugsverfahren, Entspannungsübungen“, erläutert Azizi. Die zentrale Anlaufstelle bleibt die Neurogeriatrie, hier laufen alle Fäden zusammen, die anderen Disziplinen werden angesteuert, medikamentöse Therapien ausgearbeitet, überwacht und ggf. angepasst. Bei zahlreichen Patienten sei die Reintegration in den Alltag das Ziel: „Wir möchten den Menschen ermöglichen, wieder aktiv am Leben teilzunehmen.“

IN DREI KULTUREN ZU HAUSE

Ein anderer Beruf als der des Mediziners kam für Dr. Mimoun Azizi nie in Frage, obwohl er neben Medizin auch Soziologie, politische Wissenschaften und Philosophie studiert hat. Die deutschen Philosophen von Kant bis Nietzsche haben es ihm angetan. Soweit es möglich ist, besucht er Friedhöfe und sucht ihre Gräber auf. „Es gibt Fotos von mir, z.B. auf dem Braunschweiger Friedhof, wo ich Lessing gewürdigt habe. Philosophie liebe ich über alles.“ Aber auch der Dramatiker Bertolt Brecht ist für ihn Kultur vom Feinsten.

Mimoun Azizi wurde in Hagen geboren, ist mit fünf Geschwistern aufgewachsen und hat in Essen studiert. Seine Eltern kamen im Jahr 1960 aus Nordafrika nach Deutschland. „Sie wollten eine gute berufliche Zukunft für ihre Kinder, das war ihr Wunsch und Ziel, und das haben sie erreicht“, berichtet der zweifache Vater. Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion sagt er: „Für mich gibt es keine Form der Identitätskrise, ich bin in drei Kulturen zu Hause, der Deutschen, Marokkanischen und Arabischen.“ Er spricht Französisch, Englisch, Marokkanisch, „gebrochen Spanisch“ sowie nach eigener Einschätzung nicht perfekt Arabisch. Für ihn stellt es einen Wert dar, dass sein Migrationshintergrund ihn in die Lage versetzt, die Welt aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Regelmäßig besucht er das nordafrikanische Heimatland seiner Eltern. „Das Zusammenleben mit den Alten findet dort noch in der Großfamilie statt. Es gibt kaum Pflegeheime“, erzählt er. Aber das Generationenübergreifende ist es nicht allein. Das Alter werde in der marokkanischen Kultur gewürdigt. Den Vater, Hassan II, des aktuell amtierenden Königs zitiert Dr. Azizi mit den Worten: „Wenn in Marokko die ersten Pflegeheime gebaut werden, dann möchte ich nicht mehr König dieses Landes sein“, und schickt ein arabisches Sprichwort hinterher: „Es ist die Weisheit der Alten.“ „Warum wir diese in Deutschland nicht nutzen, erschließt sich mir nicht. Wir verspielen einen Schatz. Ich wünsche mir mehr Solidarität und Sympathie untereinander.“

Der Chefarzt nimmt nicht nur sein Berufsfeld in den Blick, für einen Mann mit philosophischem, soziologischem und medizinischem Hintergrund wäre dieses geradezu untypisch. Vielmehr regt er einen Bewusstseinswandel in der Gesellschaft an, der die Generationen gleichberechtigt in den Fokus nimmt. Dieses wäre seinen Erfahrungen im Praxisalltag nach auch ein Beitrag zur Prävention. Einsamkeit bei älteren Menschen hält er beispielsweise für ein großes Problem: „Alleine sein verführt zum Grübeln, die Gedanken geraten in eine Negativspirale, das kann zu Depressionen führen.“ Er möchte gemeinsam mit seinem Team gegensteuern. Im Umgang mit Patienten erlebt er eine hohe Bereitschaft zum Erzählen, die er nutzt für die Anamnese. „Ich hake nicht einfach nach einem Fragenkatalog ab, um eine Diagnose zu erstellen. Ich führe ein Gespräch und mache mir ein Bild.“ Auch für die Angehörigen nimmt er sich Zeit.

VORREITER IN DEUTSCHLAND WERDEN

„Der Bedarf ist groß“, betont er, „wir sind ein Landkreis mit 200.000 Einwohnern und einem hohen Altersdurchschnitt.“ Die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen unterstützt die Pläne des engagierten Mediziners für die Neuerungen in der Celler Klinik. „Die Strukturen sind da, die Ambulanzen stehen bereit“, aber noch ist Mimoun Azizi nicht da, wo er hin möchte. Sein Ziel ist es, in Celle etwas ganz Neues zu etablieren, ein Leuchtturm der Altersmedizin deutschlandweit zu werden. Der Weg dahin ist noch weit, eine Tagesklinik, interdisziplinäre Fortbildungen, begleitende Studien würden beispielsweise dazugehören.

Zunächst einmal wirbt Dr. Azizi um Bekanntheit für die Ambulanzen sowie die neu gestaltete Fachabteilung insgesamt. An alle, die das 65. Lebensjahr erreicht haben und/oder älter sind, gewandt, die sich gesundheitlich beeinträchtigt fühlen, unsicher sind über Ursachen, sagt er: „Sie sind willkommen!“ Und den Zweiflern, von denen es nicht wenige gebe, hält er entgegen: „Sie werden auch noch älter als 65, dann möchten Sie auch optimal betreut werden.“

Text: Anke Schlicht

Autor:

Mimoun Azizi aus Düsseldorf

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

8 folgen diesem Profil

1 Kommentar

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.