MS
Die Reparatur des zentralen Nervensystems mittels Stammzellen
Die autologe Stammzelltransplantation wurde bereits zur Behandlung von Blutkrebserkrankungen entwickelt und wird derzeit überwiegend bei Patienten mit Multiplem Myelom und verschiedenen Lymphomentitäten, seltener bei akuten Leukämien oder soliden Tumoren durchgeführt. Da auch die Immunzellen durch die Hochdosistherapie nahezu vollständig abladiert werden, wird die autologe hämatopoetische Stammzelltransplantation als stärkste mögliche Immuntherapie bei verschiedenen Autoimmunerkrankungen wie der MS diskutiert, da hierbei ein Großteil des Immunsystems zerstört und durch die Reinfusion der hämatopoetischen Stammzellen wieder neu aufgebaut wird.
Zunehmend liefern Forschungsarbeiten aber auch Beweise dafür, daß das zentrale Nervensystem über eine erhebliche Plastizität verfügt. Nicht nur Studien, sondern auch im klinischen Alltag zum Beispiel bei Schlaganfall-Patienten zeigt sich, daß die Funktion der geschädigten Anteile durch andere übernommen werden können. Das ist die Folge des Umbaus der Hirnstruktur sowie Ausbildung neuer neuronaler Verbindungen im zentralen Nervensystem des Menschen.
Die Forschung konnte auch zeigen, daß das zentrale Nervensystem über eine Population von Stammzellen verfügt, die das zentrale Nervensystem in die Lage versetzt, aus diesen Stammzellen neue Nerven- und Stützzellen zu entwickeln. In der Praxis hat sich diese Methode jedoch als nur bedingt umsetzbar gezeigt, denn Ausfälle und Zerstörung im zentralen Nervensystem können sich nur zum Teil „erneuern“ bzw. zurückbilden.
Dennoch haben diese Forschungsergebnisse bei vielen Wissenschaftlerinnen und Ärztinnen große Hoffnung geweckt. Man erhoffte sich dadurch ein therapeutisches Verfahren gefunden zu haben, um neurologische Erkrankungen zu mindern. Dabei ging es nicht nur um akute und direkte Schädigung des zentralen Nervensystems wie im Rahmen einer Nervenverletzung oder eines Schlaganfalls, sondern auch als Therapiemethode bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Morbus Parkinson und Alzheimer Demenz. Tatsächlich sind wissenschaftliche Ergebnisse hierzu beeindruckend. Mit Hilfe der Stammzellen konnte experimentell gezeigt werden, daß eine teilweise Reparatur der Schäden im zentralen Nervensystem behoben werden konnte. In diesen Versuchen gelang es dopaminerge Nervenzellen durch Transplantation von Stammzellen in Modellen der Parkinsonschen Erkrankung teilweise wieder herstellen zu können wie auch bei Modellen der Multiplen Sklerose, wo es gelang eine Neubildung von Myelinscheiden zu induzieren.
Diese wissenschaftlichen Untersuchungen konnten zeigen, daß Stammzellen auf unterschiedlichen Wegen zur Reparatur des Nervensystems oder eines Teils des zentralen Nervensystems beitragen können. Stammzellen können sich in Nervenzellen und Stützzellen differenzieren und folglich defekte bzw. zerstörte Nervenzellen ersetzen. Die wissenschaftlichen Untersuchungen konnten aber auch zeigen, daß diese Erfolge nur in geringem Außmaße auftreten, weil diese Stammzellen in den meisten Fällen im Transplantat als undifferenzierte Zellen verbleiben. Dennoch scheinen die Stammzellen auch dann, wenn sie sich nicht voll entfalten können, eine weitere wichtige Rolle zu spielen. Sie produzieren Stoffe, die eine weitere Zerstörung des Nervengewebes verhindern und können mit diesen Stoffen auch Entzündungen aufhalten, weil sie die Abwehr Reaktion des Nervengewebes gegen sich selbst unterdrücken können.
Eine erstaunliche Eigenschaft der Stammzellen ist, daß sie nach einer Injektion in das Blutgefäßsystem selbstständig den Weg in die geschädigten Areale des zentralen Nervensystems finden.
Auch wenn diese Ergebnisse vielversprechend sind, so ist man weiterhin weit davon entfernt, die Regeneration partiell geschädigter Anteile des zentralen Nervensystems wiederherstellen zu können oder gar eine signifikante Verbesserung der Funktion dieses Systems erzielen zu können.
Es gibt unterschiedliche Arten von Stammzellen, aber am vielversprechendsten sind embryonale pluripotente Stammzellen. Das geht jedoch mit einer ethischen Problematik einher. Ist es ethisch akzeptabel, menschliche Embryonen als Ersatzteillager für Patienten zu verwenden? Daher konzentrieren sich Forscherinnen Stammzellen von den betroffenen Personen selbst zu gewinnen. Hierzu zählen mesenchymale Stammzellen aus dem Knochenmark und aus anderen Organen.
Der Druck seitens der Patientinnen und den entsprechenden Organisationen auf die Forschung ist enorm. Es werden klinische Studien gefordert. Die Transplantation von Nervenzellen bzw. Stammzellen bei Morbus Parkinson in vitro konnte Erfolge aufweisen. Auch klinische Studien an betroffenen Patienten haben gezeigt, dass dies im Prinzip möglich ist und die neurologischen Störungen gebessert werden können. Aber auch eine adäquate Gabe von Madopar konnte ähnliche Verbesserung erzielen. Da stellt sich die Frage, warum mit der Stammzelltransplantation ein höheres Risiko eingegangen werden sollte, wenn solch auch medikamentös ähnliche Ergebnisse erzielt werden können. Das riskante Prozedere einer Zelltransplantation ist demnach nur gerechtfertigt, wenn sich zeigen lässt, dass der Zellersatz durch Transplantation zu besseren Ergebnissen führt als die pharmakologische Therapie.
Stammzellentransplantation als Therapie für Patienten mit Multipler Sklerose?
Auch hier zeigen sich in experimentellen Modellen, daß der direkte Ersatz des geschädigten Nervengewebes durch Stammzellen einen gewissen Erfolg aufweist. Ferner konnte beobachtet werden, daß eine Stammzelltransplantation die endogene Regenration fördert und die Entzündungsreaktion unterdrückt. Aber auch hier zeigen sich keine signifikant bessere Ergebnisse im Vergleich zur etablierten immunsuppressiven und immunmodulierenden Therapien. Ob die Stammzellentherapie hinsichtlich Nebenwirkungen und zukünftig optimiert und somit bessere Ergebnisse als die medikamentöse Therapie aufweisen wird, bleibt aktuell unklar.
Stammzellen können nach einer Transplantation nicht entfernt werden. Sind sie einmal transplantiert und überleben sie im Gewebe ist es nahezu unmöglich, sie wieder zu eliminieren, wenn sie unerwünschte oder gefährliche Eigenschaften entwickeln im Vergleich zur medikamentösen Therapie, die beendet oder modifiziert werden kann. Eine onkologische Transformation der Stammzellen kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden. Stammzellen könnten auch zu malignen Zellen mutieren uns so zu Entstehung von Tumoren führen, daher ist der Einsatz von Stammzellen in der Behandlung von neurodegenerativen und entzündlichen ZNS-Entzündungen wie der Multiplen Sklerose nicht Mittel der Wahl.
Die Stammzelltransplantation eröffnet zweifelsohne völlig neue Perspektiven und gibt Hoffnung auf zukünftige Therapieformen. Es besteht die Hoffnung, dass künftig Volkskrankheiten wie Morbus Parkinson, Herzinfarkt, Diabetes oder gar Alzheimer und Multiple Sklerose mit Stammzellen geheilt werden können. Vom Heilungsversuch im Tiermodell bis zur Anwendung beim Menschen, wie für die Blutstammzellforschung bereits umgesetzt, wird es noch viele Jahre dauern.
Stammzelltherapie bei der primär-progredienten Multiple Sklerose (PPMS)?
Die autologe hämatopoetische Stammzelltransplantation wird seit den 90er Jahren als Behandlungsmöglichkeit bei Multipler Sklerose klinisch untersucht. In einigen spezialisierten Zentren wird sie auch in der Versorgung außerhalb von Studien eingesetzt. Sie scheint eine Alternative zu sein bei hochaggressiven Verläufen der Multiplen Sklerose und bei Versagen andrer hochwirksamer Therapieformen als auch bei persistierenden Schüben und MRT-Aktivität.
Auch die hochwirksamsten Medikamente für Multiple Sklerose zeigen bei primär oder sekundär chronisch progredienten MS-Verläufen keine Krankheitskontrolle. Die aktuell in der Routinebehandlung eingesetzten, stärker wirksamen Medikamenten wie den Sphingosinrezeptor-Modulatoren und den Antikörpertherapien (Natalizumab, Ocrelizumab, Ofatumumab, Alemtuzumab) können erhebliche Nebenwirkungen auftreten, daher wird seit Mitte der 1990er-Jahre die autologe hämatopoetische Stammzelltransplantation (AHST) als Behandlungsmöglichkeit bei MS klinisch untersucht und inzwischen in einigen spezialisierten Zentren auch in der Versorgung außerhalb von Studien eingesetzt.
Die autologe hämatopoetische Stammzelltransplantation in Deutschland zur Behandlung von MS wird nur selten durchgeführt wird, weil die Kosten nicht von den Krankenkassen übernommen werden, obwohl auch die Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Stammzelltransplantation und Zelluläre Therapie (DAG-HSZT) die autologe Stammzelltransplantation bei MS als Therapie in besonderen Fällen empfehlen. Die aktuelle MS-Leitlinie spricht der autologe hämatopoetische Stammzelltransplantation ein großes Potenzial zu. Offensichtlich scheinen jüngere Patienten mit hochaktiver Multipler Sklerose von dieser Therapie zu profitieren.
Für welche Patienten kommt eine Stammzelltherapie in der MS-Behandlung in Frage?
Insbesondere jüngere Patientinnen mit hochaktiver Multipler Sklerose scheinen davon zu profitieren. Die Altersgrenze liegt aktuell bei 55 Jahren. Auch sollte die bisherige Krankheitsdauer nicht mehr als 15 Jahre betragen.
Was ist eine hochaktive Multiple Sklerose?
Als hochaktiv gilt eine MS, wenn unter der Therapie mit einer hochwirksamen immuntherapeutischen und immunmodulatorischen Substanz klinische Krankheitsaktivität (Schubereignisse) oder eine bildmorphologische Progression, das heißt neue Läsionen in der Magnetresonanztomografie (MRT) des ZNS, auftreten.
Wirkt eine Stammzelltransplantation bei schubförmiger MS?
Zahlreiche Studien konnten die Wirksamkeit nachweisen. Es kam bei den Patienten zu einer Abnahme der Schubrate und zu einer Verbesserung im EDSS um 1,7 Punkte. Vergleiche mit Alemtuzumab zeigten bessere Ergebnisse zugunsten der Stammzelltransplantation. Des Weiteren fanden sich erstmals Hinweise dafür, dass kognitive Leistungen durch eine AHST bei MS-Patienten erhalten werden können, oder sich nach Transplantation sogar verbessern können.
Wirkt eine Stammzelltransplantation auch bei Patienten mit progredienter MS?
Bei der sekundär-progredienten Form der Multiplen Sklerose zeigen klinische Studien eine Überlegenheit gegenüber einer hochpotenten medikamentösen Therapie. In verschiedenen klinischen Studien konnte gezeigt werden, daß die Progression verlangsamt werden konnte. Ferner blieb die körperliche Beeinträchtigung bis zu fünf Jahren stabil. Auch hier war die Schubrate niedriger im Vergleich zur immunmodulatorischen Therapie.
Eine Verbesserung bei der primär-progredienten Multiple Sklerose konnte nicht dargelegt werden. Hier fehlen auch isolierte Daten, um eine Aussage tätigen zu können.
Insgesamt zeigen die umfangreichen Ergebnisse aus einer randomisierten, kontrollierten Studie sowie aus zahlreichen Kohorten- und Fallstudien, Metaanalysen sowie aus systematischen Auswertungen von Registerdaten, dass die Stammzelltherapie ein hohes Potenzial als MS-Therapie hat. Daher wird inzwischen die Stammzelltherapie auch als Erstlinientherapie bei schweren Verläufen mit hoch aggressivem Beginn der MS heftig diskutiert.
Hat eine Stammzelltherapie auch Nebenwirkungen in der Behandlung von Patienten mit multipler Sklerose?
Die klinischen Studien konnten zahlreiche Nebenwirkungen nachweisen. Neben schweren Infektionen, die zu Pneumonien geführt haben, konnten auch Blutungen, Sterilität, Haarverlust und auch Depressionen beobachtet werden. In einigen Fällen kam es auch zu Herzversagen, hier insbesondere bei Patienten mit einer bekannten Herzinsuffizienz. Auch allergische Reaktionen und Folgetumorerkrankungen wurden beschrieben. Neu aufgetretene Schilddrüsenerkrankungen und autoimmune Thrombozytopenien konnten ebenfalls beobachtet werden. Jedoch darf nicht ausser Acht gelassen werden, daß auch Medikamente wie Alemtuzumab, Ocrelizumab, Ofatumumab und Natalizumab schwere Nebenwirkungen haben.
Die Mortalitätsrate bei der Stammzelltransplantation in der Behandlung von Patienten mit Multipler Sklerose liegt bei ca. 1%.
Die Behandlung von Patienten mit Multipler Sklerose durch Stammzelltransplantation scheint mehr als nur erfolgsversprechend zu sein. Sie ist eine überzeugende Therapie für aggressive Verläufe der MS, insbesondere bei Versagen der hochwirksamen Therapien in Form von persistierenden Schüben und MRT-Aktivität. Allerdings spielt sie in der Behandlung von Patienten mit hochaktiver Multiple Sklerose eine untergeordnete Rolle in Deutschland, weil sicherlich die Kosten von den Krankenkassen nicht übernommen werden. Eine Kostenübernahme geschieht in sehr seltenen Fällen. Das führt dazu, daß Betroffene sich im Ausland behandeln lassen zum Beispiel in Skandinavien oder Spanien. Umso wichtiger ist es, daß ein Konsensus mit den Kostenträgern gefunden wird, damit diese Therapieform, die offensichtlich wirksam ist und bei hochaktiver MS sogar wirksamer ist als die hochpotenten Medikamente, ihren Weg hin zur Standardtherapie in Deutschland findet.
Dr. Mimoun Azizi
Autor:Mimoun Azizi aus Düsseldorf |
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