Alternativen zum bestehenden
Resilienz in der Moderne – Heterotopien gegen die schlechten Zustände
»Schließlich wollen wir nicht nur unterschiedlich sein sondern auch lebendig und frei. Das hat breite Voraussetzungen: Lebendig sind wir nur bei gewahrter Lebensgrundlage und frei nur gemeinsam« (Redecker, 2020, S. 212)
Die Zustände in dehnen wir leben, lieben und arbeiten müssen, könnten schlechter kaum sein. Nach der Corona-Pandemie folgte eine andauernde Inflation und wenn die Nachrichten eingeschaltet werden, dann ist von »Krieg in Europa«, »Krieg in Gaza« und einer »Wirtschaftlichen Rezession« die Rede. All diese Nachrichten können Gefühle von Hilflosigkeit, Betroffenheit oder purer Angst auslösen. Von der noch immer anhaltenden Klimakrise möchte der Autor dieser Zeilen gar nicht erst anfangen zu schreiben. Die Lage scheint ausweglos zu sein und die politischen Entscheider*innen in Deutschland strömen nicht grade vor Handlungswille. Es ist eine Verwaltung des Status quo, welche sich im politischen Berlin vollzieht. Die für 2025 angesetzten Neuwahlen des Deutschen Bundestages versprechen eher eine Verschlechterung der politischen Lage. Doch anstatt in das lähmende Lamentieren der Apologet*innen des Abgrundes einzustimmen, versucht der Essay Alternativen zum bestehenden Auszuloten. Dabei wird in einem ersten Schritt der gegenwärtige Zustand skizziert, um anschließend Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Die Notwendigkeit ins handeln zu kommen wird anschließend ausgeführt. Zuletzt wird die Heterotopie als alternatives Verständnis von gemeinschaftlichen Orten skizziert.
»Die Aufforderung lautet »schaffen wir ein, zwei drei ganz viele Heterotropien«
I. Ausharren (in Gemeinschaft)
Die Krisenhaften Zuspitzungen der modernen Lebensweise finden ihren Höhepunkt in der gefühlten Häufung der erlebten Krisen der letzten 20 Jahre: neben der Finanz und Wirtschaftskrise 2008, der sich immer weiter zuspitzenden Klimakrise, der Corona Pandemie ab 2021, dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Jahr 2022 oder dem Angriff der Hamas auf Israel am 07. Oktober 2023. All diese Ereignisse führen uns die Fragilität unserer Lebensrealität vor Augen. Die politischen Verantwortungsträger*innen scheinen nicht willens oder nicht fähig die Krisen auf demokratischem Weg zu lösen. Vielmehr verkommt die Politik zu einer populistischen Schlammschlacht in welcher in Wahlzyklen und nicht mit Weitsicht gedacht wird. Gefühle von Ohnmacht, Resignation und Hoffnungslosigkeit können schnell die Oberhand gewinnen. Im Besonderen, weil es keinen Ausweg zu geben scheint. Das Gemütlich machen in den eigenen vier Wänden, der Rückzug vor Nachrichten und die Kapitulation vor den Verhältnissen, scheinen die sinnvollere Option zu sein. Sich mit der eigenen Peergroup zu umgeben und einander Kraft zu spenden, das kann helfen, nicht an den schlechten Bedingungen des Lebens zu verzweifeln. Wir brauchen stabile und sorge zentrierte Beziehungen um Verzweiflung und Frust ablassen zu können, sei es in der Wohngemeinschaft, Kommune, im Mehrgenerationenhaus oder in der Kleinfamilie. Den betäubenden Lärm auszuschalten, für einen kleinen Moment, dass kann helfen resilienter zu sein gegen die Zurichtungen des »falschen Lebens« welchen wir uns immer wieder unterwerfen müssen. Wollen wir nicht alle mehr Zeit für Freund*innen, die Familie oder lange Spaziergänge haben? Sehnen wir uns nicht danach auszuschlafen und gemütlich mit Menschen die wir lieben zu frühstücken? Wie können wir diese Wünsche verwirklichen?
II. Handeln
Die »Postmoderne« ist durch Ausdifferenzierungsmechanismen gekennzeichnet, welche darüber hinaus den Fokus verstärkt auf das Individuum richten (Reckwitz, 2017). Gleichzeitig führte die rasante technologische Entwicklung dazu, dass sich ein global agierender und auf Flexibilisierung setzender »Geist des Kapitalismus« (Boltanzki & Chiapello, 2006) ausbreiten konnte welcher über die Arbeitswelt hinaus seinen Niederschlag in sämtlichen Sphären der Lebenswelt findet (Martschukat, 2019, S.35). Es wäre töricht die Wirkmächtigkeit dieser Prozesse zu unterschätzen. Sie finden sich beim Einkaufen, beim Buchen von Flügen für den Urlaub oder bei der Bewerbung (vgl. Jörg, 2020, S. 34). Immer müssen wir schnellstmöglich reagieren und uns flexibel an die Bedingungen anpassen, welche sich auftun. Die Pädagogisierung des »Lebenslangen Lernens« ist das Mantra des flexiblen Menschen. Zynisch gesprochen ist es verwunderlich, dass die Krisen der Gegenwart unser Leben derart erschüttern. Wir könnten doch aus der Not eine Tugend machen und uns flexibel an die neuen Bedingungen anpassen! All diese Mechanismen führen zu einer Erosion von Beziehungen und dem Verständnis welches wir von Beziehungen haben. In der Gegenwart werden Menschen lediglich im familiären Nahumfeld mit Konzepten von Solidarität vertraut gemacht (vgl. Redecker, 2022, S. 217). Jenseits des eskapistischen Zynismus gibt es jedoch Alternativen zum Ausharren und dem Leiden an den Verhältnissen. Wir wollen doch alle mehr Zeit mit unseren Freund*innen und Menschen welche uns lieb und wichtig sind verbringen, doch hindern uns »Notwendigkeiten« wie Lohnarbeit und Familie oft an diesem Vorhaben. Doch was könnte eine Alternative sein?
Anstatt auf das »Richtige Leben im Falschen« zu warten müssen wir jetzt Handeln und Vorkehrungen treffen. Wir müssen neue »Beziehungsweisen« (Adamczak) eingehen, solche welche die soziale Verdinglichung, d.h. das Knüpfen von Kontakten als Tauschbeziehung, hinter sich lassen. Gegen die Abrichtungen des neoliberalen Regimes alles sofort, immer und überall verwerten zu können, sollten wir den Mut zur Completation, dem Ausruhen, Verweilen und dem Müßiggang setzen (vgl. Han, 2012; 2022).
»Die Heterotopie ist also ein Ort zwischen dem »jetzt« und der Utopie. Gewissermaßen ein Fluchtpunkt verschiedener und vielfältiger Existenzweisen«
III. Vom Handeln zum Widerstand
Jedoch darf das Verweilen nur ein Teil dessen sein, was wir den herrschenden Bedingungen entgegenzusetzen gedenken. Wir sind gefragt, um unsere Hetrotropien selber zu verwirklichen. Als Heterotopie versteht der Historiker und Philosoph Michel Foucault »wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können« (1967 [1993], S.39). Die Heterotopie ist also ein Ort zwischen dem »jetzt« und der Utopie. Gewissermaßen ein Fluchtpunkt verschiedener und vielfältiger Existenzweisen. Während die Utopie in weiter Ferne verbleibt, ist es die Kraft der Heterotopie welche zur Verwirklichung drängt. Die Notwendigkeit von Orten in welchen wir gemeinsam Kraft tanken können ist notwendiger denn je. Dabei können diese heterotopischen Orte vielfältig und verschieden sein. Es ist der Buchladen wo Menschen zusammen kommen und sich auf einen Kaffe treffen. Es kann das kleine alternative Café an der Ecke sein, welches von einem queerfeministischen Kollektiv geführt wird. Oder es ist das Gewerkschaftshaus in welchem Bildungsangebote durchgeführt werden. Jenseits der großen Metropolen können diese Orte das Jugendzentrum oder das kleine Theater sein in welchem engagierte Menschen zusammenkommen. Selbstredent gibt es auch Städte, Gemeinden und Dörfer in welchen es scheinbar keine solcher Orte gibt. Selbstredent sind diese alternativen Orte dem Zugriff der politischen und ökonomischen Sphäre nicht verschlossen, dennoch bieten sie Inseln der Gegenkultur im Meer des konsumförmigen immer gleichen. Die Aufforderung lautet »schaffen wir ein, zwei drei ganz viele Heterotropien«. Die Orte müssen wir schützen und erhalten um mit ihnen und durch sie zu wachsen.
IV. Die Heterotopie als resilienter Ort
Selbstredend ist es leichter im städtischen Raum, am besten in einem Stadtviertel solche Vorschläge zu unterbreiten, in dem eine Mehrzahl der Bewohner*innen links-grün alternativ angehaucht ist. Dennoch können Heterotopien überall dort entstehen wo Menschen sich nicht mehr von den herrschenden Bedingungen klein machen lassen (wollen). Es braucht nicht viel um solche Orte zu schaffen, im Grunde reicht etwas Tatendrang und eine kleine Gruppe von Menschen welche Vorstellungskraft mitbringen. Diese Orte müssen wir gemeinsam kultivieren und mit Leben füllen. Nur so können Alternativen zu den bestehenden Nicht-Orten verwirklicht werden. Die heterotopischen Orte sind gleichsam gegen-Orte und mit-Orte. Gegen-Orte sind sie, weil sie sich dem geltenden Zugriff des neoliberalen Tauschregimes entziehen und eine solidarische und beziehungsfähige Alternative schaffen. Mit-Orte sind sie, weil sie nur durch gemeinsame Anstrengungen verwirklicht werden können. Die heterotopischen Orte bieten einen Raum, um zusammenzukommen und Kraft zu tanken. Sich auszutauschen und gemeinsam den schlechten Zuständen etwas entgegenzusetzen. Im besonderen biete Sie eine Möglichkeit, um Beziehungsweisen jenseits des Verwertungszusammenhangs der Tauschlogik zu erleben und zu erfahren. Hier liegt das Potenzial dieser Orte: die Erfahrung, dass auch alles ganz anders sein könnte.
Litertatur:
Boltanski & Chiapello, E. (2006). Der neue Geist des Kapitalismus. Köln: Halem.
Foucault, M. (1967 [1993]). Andere Räume. In Barck, K. (Hg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik; Essais. Leipzig: Reclam.
Han, B.-C. (2012). Duft der Zeit. Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens. Bielefeld: Transcript.
Han, B.-C. (2022). Vita Complentativa: oder von der Untätigkeit. Frankfurt a.M.: Fischer.
Martschukart, J. (2019). Das Zeitalter der Fitness. Frankfurt a.M.: Fischer.
Reckwitz, A. (2019). Gesellschaft der Singularitäten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Redecker, E. v. (2020). Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestform. Frankfurt a.M.: Fischer.
Jörg, K. (2020). »Backlash« Essays zur Resilenz der Moderne. Hamburg: Textem.
Autor:Luca H. aus Düsseldorf |
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