Ein Appell an die Welt
Michail Gorbatschow (+): Kommt endlich zur Vernunft - NIE WIEDER KRIEG !"

UN-Generalsekretär Antonio Guterres befürchtet die Ausweitung des Ukraine-Krieges  in einen großen Krieg hinein mit dem Risiko eines Atomkrieges. Die Aussicht auf Frieden werde immer geringer. Deswegen sei an einen wenig beachteten Friedensappell erinnert: Der am 30. August 2022 im Alter von 91 Jahren verstorbene Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow hatte sechs Jahre zuvor einen eindringlichen Appell an die Staatsführungen und die Zivilgesellschaft in der Welt gerichtet, der angesichts des grauenvollen Ukraine-Krieges und der neuerlichen Ost-West-Konfrontation sowie der weiteren Hochrüstung aktueller denn je erscheint.
In den heutigen Zeiten neuer Feindbilder und Kriege brauchen wir vermittelnde und versöhnende Stimmen wie die des erfahrenen Realisten Michail Gorbatschow: Er trat für ein grundlegendes weltpolitisches Umdenken ein, bei dem Gewaltfreiheit in den internationalen Beziehungen an erster Stelle steht. „Doch die führenden Politiker kommen vor lauter Tagesgeschäft einfach nicht dazu, sich damit zu beschäftigen.“ Besonnene Politiker wie Rolf Mützenich werden ebenso überhört wie das Vermächtnis von Gorbatschow. SPD-Chef Klingbeil betrachtet erklärtermaßen "militärische Gewalt als ein Mittel der Politik". Darum müsste die Zivilgesellschaft unsere Politiker dahin treiben, wohin sie Gorbatschow gerne gesehen hätte.

Doch die Politiker setzen unverdrossen auf „atomares Gleichgewicht“ zur gegenseitigen Abschreckung sowie auch auf „atomare Teilhabe Deutschlands“ in der NATO. Michail Gorbatschow: „Solange es Atomwaffen gibt, bleibt die Gefahr bestehen, dass sie zum Einsatz kommen. Sei es durch Zufall, eine technische Störung oder auch einen bösen menschlichen Willen. Deshalb müssen wir das Ziel, die Atomwaffen zu verbieten und zu vernichten, mit Nachdruck weiterverfolgen. Das ist unsere Pflicht.“

Das Risiko des tatsächlichen Atomwaffeneinsatzes

Dazu hatten im Jahr 2009 drei deutsche Staatsmänner parteiübergreifend einen „Appell für eine atomwaffenfreie Welt“ mit einer Erklärung zur Abrüstung veröffentlicht: Helmut Schmidt (SPD), Hans-Dietrich Genscher (FDP) und Richard von Weizsäcker (CDU): „Abschreckung ist zwar weiterhin für viele Länder, die sich von anderen bedroht fühlen, ein wesentlicher Faktor, aber dabei auf Atomwaffen zu setzen, wird zunehmend riskanter und wirkungsloser. (…) Es ist äußerst fraglich, ob wir die alte sowjetisch-amerikanische Strategie der „gesicherten gegenseitigen Zerstörung“ bei immer mehr potenziell atomar bewaffneten Feinden weltweit erfolgreich reproduzieren können, ohne das Risiko eines tatsächlichen Einsatzes von Atomwaffen.“

Zuvor hatten bereits in 2007 namhafte Veteranen der amerikanischen Politikszene – Henry Kissinger, Georg Shultz, William Perry und Sam Nunn – einen dramatischen Appell an ihre Nation gerichtet: Amerika stehe vor einem neuen Nuklearzeitalter, gefährlicher und kostspieliger als der kalte Krieg. Sie drängten auf entschiedene Anstrengungen der Rüstungskontrolle als den einzigen Weg, um der Fehlentwicklung entgegenzuwirken. Auch der deutsche Friedennobelpreisträger Willy Brandt hatte sich wiederholt für eine Welt ohne Atomwaffen eingesetzt sowie für den Verzicht Deutschlands auf Atomwaffen. Heute wird seine damalige Entspannungs- und Ostpolitik fälschlich als quasi „gescheitert“ betrachtet. Dabei gab es damals viele Ansätze, die sich der wirklich existenziellen Probleme der Weltengemeinschaft weitsichtig annahmen.

Eine Krise der politischen Führung, national wie international

Doch laut Gorbatschow fühle sich die heutige Politik ihrer Aufgabe nicht gewachsen: „Diejenigen, die den „Sieg des Westens im Kalten Krieg“ erklärten und sich weigerten, ein neues, gleichberechtigtes Sicherheitssystem aufzubauen, tragen heute einen großen Teil der Verantwortung für die heutige Lage.“ Er richtet eine deutliche Kritik an die heute politisch Verantwortlichen, die dem alten Denken verhaftet sind: „Politiker, die meinen, Probleme und Streitigkeiten könnten durch Anwendung militärischer Gewalt gelöst werden – und sei es auch nur als letztes Mittel – sollten von der Gesellschaft abgelehnt werden, sie sollten die politische Bühne räumen.“ Für Gorbatschow steht fest: Wir haben es mit einer Krise der politischen Führung zu tun. International wie auch national. Die Politiker sind voll und ganz mit „Löscharbeiten“ beschäftigt, mit dem Tagesgeschäft, mit den aktuellen Krisen und Konflikten.“

Man habe sich politisch noch gar nicht richtig mit der neuen globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts auseinandergesetzt. „Warum ist die heutige Welt unruhig, ungerecht, militarisiert? (…) Man hätte denken können, das Ende der globalen Konfrontation und die noch nie dagewesenen Möglichkeiten, die die neuen Technologien eröffnen, hätten der Welt neuen Auftrieb gegeben und das Leben jedes Einzelnen besser machen müssen. Doch es kam anders.“ Denn die Globalisierung erfordert „neue Verhaltensregeln und eine andere Moral.“ Darin sieht Gorbatschow die Hauptursachen der globalen Wirren, die wir heute erleben.

Neues Wettrüsten statt Antworten auf die eigentlichen Herausforderungen

„Inzwischen ist eine neue Runde des Wettrüstens gestartet worden, die Umweltkrise verschärft sich, die Kluft zwischen den reichen und armen Ländern wird immer größer und die Schere zwischen Arm und Reich innerhalb der Staaten öffnet sich immer weiter. Das sind Probleme, die ganz oben auf der Weltagenda stehen sollen und müssen. Doch sie werden nicht gelöst. Sackgassen überall, wohin man auch schaut“, so die Analyse von Michail Gorbatschow. Ohne den globalen Kontext sei es nicht möglich, die Ursachen und Folgen der heutigen Konflikte nachzuvollziehen und zu begreifen.

Für Gorbatschow lautet ein weiterer Imperativ unserer globalisierten Welt: “Politik und Ethik müssen vereint werden“, auch wenn es sich nicht auf einen Schlag von heute auf morgen lösen lässt. „Doch wird es nicht schon heute aufgegriffen und auf die Tagesordnung gesetzt, wird nicht hartnäckig und konsequent auf seine Lösung hingearbeitet, ist die Welt dazu verurteilt, mit immer neuen Konflikten und unlösbaren Auseinandersetzungen konfrontiert zu werden.“ In der heutigen Zeit sei ein Höchstmaß an Verantwortung erforderlich: „Es gilt, Emotionen und Propaganda entschieden hinter sich zu lassen."

Demilitarisierung der Politik und der internationalen Beziehungen

Die UN-Organisationen und die G-20-Gipfeltreffen etc. wurden zur Bewältigung der neuen Herausforderungen ins Leben gerufen. „Doch kaum jemand kann ihre Tätigkeit als Erfolg bezeichnen. Stets kommen sie zu spät, stets bleiben sie hinter den realen Entwicklungen zurück“, so die ernüchternde Bilanz von Michail Gorbatschow. Auch die Abkühlung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen habe bereits in den 1990-er Jahren begonnen. Die jetzigen Politiker der führenden Staaten müssen sich einiges vorwerfen lassen. „Doch sie haben immer noch eine Chance, einen würdigen Platz in den Geschichtsbüchern einzunehmen. Es wäre ein großer Fehler, diese Chance zu vergeben.“

Gorbatschow wird nicht müde zu wiederholen, dass die menschheitlichen Ziele nur unter den Bedingungen einer demilitarisierten Politik und demilitarisierter internationaler Beziehungen erreicht werden. Umso besorgter schauen viele Menschen auch in Deutschland auf die kurzsichtigen Reaktionen der Politiker in Regierung und Opposition auf den kriegerischen Überfall Putins auf die Ukraine, indem sie ihrerseits mit einer Remilitarisierung der deutschen und europäischen Politik antworten und weitere dreistellige Milliardensummen in die Nach- und Aufrüstung stecken, trotz des weltweit höchsten Rüstungsniveaus in der Menschheitsgeschichte von fast 2 Billionen Dollar. Frieden schaffen mit immer mehr Waffen? Michail Gorbatschow erinnert hoffnungsvoll an die laustarke Stimme der Friedensbewegung gegen Krieg und Atomwaffen in den 1980-er Jahren, die gehört wurde. Doch aktuell wird Pazifismus mit Naivität gleichgesetzt.

Besorgnis der Menschen über globale Fehlentwicklungen

Die Menschen sind besorgt wegen der Spannungen in der Welt. „Doch nicht weniger besorgt sind sie um ihre eigene Lage und Perspektive“. Denn das eine hänge mit dem anderen unmittelbar zusammen.“ Gorbatschow bemerkt: „Selbst in den hoch entwickelten Industrienationen zeigt sich die Mittelklasse, der Motor jeder erfolgreichen gesellschaftlichen Entwicklung, mit ihrem Leben unzufrieden. Immer häufiger unterstützen Wähler Populisten, die auf den ersten Blick einfache, jedoch gefährliche Lösungen bieten.“ Die Menschen fragen: „Wohin geht die Entwicklung der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts? Warum ist die heutige Welt unruhig, ungerecht, militarisiert?“

Die globalen Ursachen dafür sind laut Gorbatschow unübersehbar: „Die Urheber undurchsichtiger Finanzstrukturen hingegen, die niemandem Rechenschaft ablegen müssen, haben sich sehr rasch an die Globalisierung angepasst und profitieren davon. Sie erzeugen eine Blase nach der anderen und machen Milliarden – buchstäblich aus der Luft. Diese Milliarden stehen einem immer enger werdenden Kreis an Personen zur Verfügung, die sich der Versteuerung entziehen. Das ist aber nur die Spitze eines Eisberges. (…) Abgesehen davon haben sich die organisierte Kriminalität, Drogen- und Waffenhändler , Schleuserbanden, die aus den Migranten-Strömen Kapital schlagen, Cyber-Kriminelle und vor allem Terroristen in der globalisierten Welt längst eingerichtet. Sie fühlen sich darin wohl und sicher.“ Dagegen muss dringend gehandelt werden.

Appell an die Zivilgesellschaft zum Handeln

Seinen Appell zum Handeln richtet Gorbatschow nicht nur an die Staatsführungen, sondern auch an die Zivilgesellschaft: „Ich bin zuversichtlich, dass die Zivilgesellschaft eine immer größere Rolle spielt.“ Bei der Beendigung des Kalten Krieges habe die Öffentlichkeit eine enorme Rolle gespielt. Heute appelliert Gorbatschow „an alle Menschen, die nicht nur an sich denken und denen die Zukunft ihrer Kinder und Enkel nicht gleichgültig ist, ihre Bemühungen zu vereinen, um die Welt vor Kriegsleid, vor der Bedrohung einer Umweltkatastrophe, vor Armut und Rückständigkeit zu bewahren.“

Der Verzicht auf Gewalt ist für Gorbatschow eine der Grundlagen einer neuen humanistischen Zivilisation, die die besten Köpfe der Menschheit anstrebten und anstreben. Das Ziel, eine sichere, gerechtere und stabilere Weltordnung aufzubauen, sei realistisch und es lohne sich, dafür alles zu tun, was in unserer Macht steht. In seinem 2016 veröffentlichten Interview mit Franz Alt geht er näher auf alle genannten Aspekte ein, insbesondere auch auf die schrittweise Verschlechterung der deutsch-russischen Beziehungen. Gorbatschow in seinem Appell: „Lassen Sie uns nicht vergessen: Wir leben alle auf EINEM Planeten! Wir sind EINE Menschheit!“

Wilhelm Neurohr
13. März 2022 (aktualisiert am 06.02. 2023)

>>>siehe auch früheren Beitrag des Autors vom 14. März 2021 unter:
http://www.wilhelm-neurohr.de/aktuelles/der/

"Aufrüstungsweltmeister Deutschland: Der friedensgefährdende Rüstungswahnsinn des Westens / USA-Militärausgaben dreimal so hoch wie von China und Russland zusammen

Autor:

Wilhelm Neurohr aus Haltern

Webseite von Wilhelm Neurohr
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