"Kinderarmut in NRW sinkt" - Ministerpräsidentin Hannelore Kraft im Lokalkompass-Interview

Hilft Hannelore Kraft im Wahlkampf der Bonus des Amtsinhabers? Nach neuen Prognosen liegen SPD und CDU fast gleichauf. Alle Fotos: Georg Lukas
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  • Hilft Hannelore Kraft im Wahlkampf der Bonus des Amtsinhabers? Nach neuen Prognosen liegen SPD und CDU fast gleichauf. Alle Fotos: Georg Lukas
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Hat die SPD die Mehrheit schon sicher oder liegt sie im Rennen um die Wählerstimmen gleichauf mit der CDU? Ministerpräsidentin Hannelore Kraft traut beiden Prognosen nicht. Und kämpft um die Deutungshoheit über die rot-grüne Regierungsbilanz.

Zwischen Ihrer (Regierungs-)Bilanz und der Bilanz von CDU und FDP liegen Welten, zum Beispiel in den Bereichen Bildung und Wirtschaft. Die Opposition sieht NRW deutlich abgehängt vom Rest der Bundesrepublik. Eine führende Rolle übernimmt NRW demnach nur bei den Negativdaten, zum Beispiel bei Einbruchszahlen, Kinderarmut und Staukilometern. Haben Ihre Mitbewerber andere Zahlen als Sie?

Kraft: Dieses Zerrbild entspricht doch nicht der Realität und der Wahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger. Wir haben an den entscheidenden Stellschrauben gedreht, um eine gute Zukunft für NRW zu sichern. Stichwort Bildung: Die Zahl der Kita-Plätze für Unter-Dreijährige haben wir auf rund 180.000 verdoppelt und an den Schulen die Zahl der Plätze im Offenen Ganztag um 80.000 auf 305.000 gesteigert. Es gibt fast 7200 zusätzliche Lehrerstellen. Stichwort Wirtschaft: Wir hatten 2016 ein Wirtschaftswachstum von 1,8 Prozent und liegen damit nur 0,1 Prozent hinter dem Bundesschnitt. Als wir 2010 begonnen haben, betrug der Abstand zwischen NRW und dem Bund noch 1,6 Prozent. Und wir gestalten intensiv die nächste große Strukturveränderung, den digitalen Wandel. Hier sind wir beim Ausbau des schnellen Internets unter den Flächenländern deutschlandweit Spitze. Und unsere Zusage steht: bis 2018 flächendeckend 50 Megabit/s und bis 2026 superschnelles Glasfasernetz im ganzen Land.

Neue Zahlen zur Armutsforschung

Sie wollen in NRW „Kein Kind zurücklassen“. Tatsächlich lebt im Regierungsbezirk Düsseldorf fast jedes vierte Kind in Armut, das Armutsrisiko in NRW ist gestiegen. Muss der Ansatz zur Armutsbekämpfung verändert werden?

Kraft: Die Hans-Böckler-Stiftung hat jetzt gerade neue Zahlen ermittelt, dass die Kinderarmut in NRW gesunken ist. Das ist sonst nur in zwei anderen Bundesländern der Fall. In 13 Ländern ist sie dagegen gestiegen. Aber klar ist auch: Die Kinderarmut ist immer noch zu hoch. Kinderarmut ist immer Erwachsenenarmut. Da müssen wir ansetzen und das ist bundespolitisch zu diskutieren, etwa darüber wie wir mit Hartz-IV-Sätzen für Kinder umgehen. Insbesondere die Gruppe der Alleinerziehenden ist armutsgefährdet. Deshalb haben wir als SPD auf Bundesebene vorangetrieben, den Unterhaltsvorschuss zu verbessern. Und wir lassen nicht locker, Langzeitarbeitslosen über einen sozialen Arbeitsmarkt wieder Beschäftigungsperspektiven zu eröffnen. Bei „Kein Kind zurücklassen“ geht es aber vor allem darum, dass sich Kinderarmut nicht mehr vererbt. Durch vorbeugende Unterstützung wollen wir allen Kindern einen guten Start ins Leben eröffnen und Familien besser unterstützen. Wir haben seit 2010 mehr als 200 Milliarden Euro in den Bereich Kinder, Familien, Bildung investiert.

"Es gibt keine No-Go-Areas"

Sie sagen, dass es in NRW keine No-Go-Areas gibt. Bürger meiden aber bereits zum Beispiel große Gebiete in Duisburg Marxloh, im Essener Norden oder auch in der Dortmunder Nordstadt. Was tun Sie, um diese Entwicklung zu stoppen oder umzukehren?

Kraft: Es gibt keine No-Go-Areas in NRW. Denn das würde bedeuten, es gäbe Orte, in die kein Polizist mehr reingeht. Es gibt problematische Stadtteile, zum Beispiel durch eine massive Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien, 17.000 allein in Duisburg. Kriminelle Clans organisieren dort das Leben und Wohnen in sogenannten Schrottimmobilien. Sie locken die Menschen aus Südosteuropa an, geben ihnen Scheinarbeitsverträge bei Scheinarbeitgebern, um sie als Aufstocker für Sozialleistungen zum Amt zu schicken, melden die Kinder bei der Kindergeldstelle an, lassen sich eine Kontovollmacht geben und kassieren ab. Wir haben schon 2014 ein Wohnungsaufsichtsgesetz verabschiedet, damit Kommunen gegen skrupellose Vermieter vorgehen können. Als das nicht reichte, habe ich vor fast einem Jahr in Düsseldorf alle Stellen an den Tisch geholt: Bundesministerien, Zoll, Arbeitsagentur, Kindergeldstelle, Polizei, Justiz, Stadt, Ordnungsdienste. Und wir haben uns eng abgestimmt und gemeinsam gehandelt. Zum einen werden Razzien durchgeführt, um dieses kriminelle System aufzudecken. Deren Ergebnisse sind erschütternd, wie viel Geld da abgezockt wird. Das ist aber nur ein Baustein. Durch unsere Initiative hat der Bund zusätzlich die Fördervoraussetzungen geschaffen, damit die Städte die Schrottimmobilien kaufen und abreißen können. Das Ziel ist, dass diese Viertel mit Förderung des Landes gezielt aufgewertet werden. Wir lassen die Städte mit diesen Problemen nicht im Stich.

Bleibegarantie für Innenminister Jäger?

Herr Lindner hat deutlich gemacht, dass eine Koalition mit der FDP nur ohne Innenminister Jäger zu haben sei. Bekommt Herr Jäger von Ihnen die Bleibegarantie?

Kraft: Ich beteilige mich schon aus Respekt vor den Wählerinnen und Wählern nicht an Koalitionsspekulationen. Denn erst einmal entscheiden die Menschen am 14. Mai und dann sehen wir weiter. Allein deshalb kann auch kein Minister eine Bleibegarantie bekommen, weil in Koalitionen erst am Ende über Ministerposten entschieden wird. Ralf Jäger kann gute Erfolge bei der Inneren Sicherheit vorweisen: Die Zahl der Einbrüche ist in den ersten drei Monaten 2017 gegenüber dem Vorjahr um über 30 Prozent zurückgegangen. Die niedrigste Jugendkriminalität seit 45 Jahren, Null Toleranz gegen Rocker und Rechtsextreme, bundesweit beispielhafte Aussteigerprogramme für junge Salafisten. Und er hat mit dafür gesorgt, dass wir wieder mehr Polizisten haben. Die Vorgänger-Regierung hatte etwa 500 Stellen bei der Polizei gestrichen. Wir haben seit 2010 rund 1.200 neue Stellen geschaffen und die Ausbildungszahlen schrittweise von 1.100 auf inzwischen 2.000 wieder deutlich nach oben gesetzt, weil wir wissen, dass wir mehr Polizisten brauchen. Und wir werden die Zahl weiter auf 2.300 hochsetzen.

NRW ist Stauland Nummer eins. Was läuft falsch und wie wollen Sie gegensteuern?

Kraft: Ich kann jeden gut verstehen, der sich über Staus aufregt. Das tue ich auch. Aber wenn wir über Stau reden, reden wir in der Regel über Autobahnen und Brücken. Dafür ist der Bund verantwortlich. Und da haben wir es jetzt geschafft, 14 Milliarden Euro des Bundes hierher zu holen, die bis 2030 verbaut werden, nachdem in den vergangenen Jahrzehnten unter verschiedenen Regierungen nicht genug getan wurde. Wo viel gebaut wird, wird es leider auch weiterhin viel Staus geben. Deswegen kann ich da vorerst auch keine Entwarnung versprechen, aber wir sind uns sicher alle einig darüber, dass die Infrastruktur generalüberholt werden muss. Und Sie müssen ja auch bedenken: Wir haben in NRW auch die meisten Autos auf einer Fläche, die halb so groß ist wie Bayern.

Etliche Anträge für NRW-Projekte hängen in Berlin in der Warteschleife, zum Beispiel für Straßenbau. In Berlin heißt es, da wird nicht abgerufen. Woran liegt das?

Kraft: Auch das können wir uns gerne genauer ansehen. Von 2006 bis 2010 ist unter CDU/FDP die Zahl der Ingenieure und Planer bei Straßen.NRW, die für uns die Straßenbauprojekte machen, um über 100 Stellen abgebaut worden. Wir mussten erst einmal neue einstellen und teilweise Aufträge extern vergeben. Seit 2014 hat NRW Jahr für Jahr mehr Bundesfernstraßenmittel abgerufen als eigentlich vorgesehen – insgesamt über 137 Millionen Euro zusätzlich, die in anderen Bundesländern liegen geblieben waren.

"Fliegengewicht NRW"

Sie haben sehr früh deutlich gemacht, dass Sie keine Aufgabe in Berlin übernehmen wollen. Experten sprechen von einem „schweren Fehler“. Christian Lindner sagt: „Damit hat Hannelore Kraft das Gewicht von NRW in Berlin auf ein Fliegengewicht reduziert.“ Würden Sie Ihre Entscheidung heute noch einmal treffen?

Kraft: Seien Sie versichert: Als Ministerpräsidentin des bevölkerungsreichsten Bundeslandes und stellvertretende SPD-Vorsitzende hat meine und damit die Stimme Nordrhein-Westfalens in Berlin sehr viel Gewicht. Das hat sich auch bei den Verhandlungen um den Länderfinanzausgleich gezeigt. Ich bin als Späteinsteigerin in die Politik gegangen. Mitgebracht habe ich ein Herzensthema als politisches Ziel, nämlich das Programm „Kein Kind zurücklassen“. Wir weiten dieses Programm jetzt bis 2020 auf ganz NRW aus. Ich möchte das zu einem Erfolg führen. Dafür brauche ich Zeit – und zwar Zeit in Nordrhein-Westfalen.

Wenn Sie die Wahl in NRW gewinnen, werden Sie mindestens einen Koalitionspartner brauchen. Mit wem wollen Sie regieren?

Kraft: Ich mache jetzt erst einmal bis zum 14. Mai sehr gerne Wahlkampf, um mit den Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch zu kommen und für die Inhalte der SPD zu werben. Danach schauen wir dann, mit wem wir eine Regierung bilden können.

Rot-Rot-Grün ausgeschlossen?

Sie halten die Linke für „weder regierungsfähig noch regierungswillig“. Ist Rot-Rot-Grün damit ausgeschlossen?

Kraft: Wir haben seit 2010 immer wieder betont, dass wir die Linkspartei hier nicht als regierungswillig und regierungsfähig ansehen. Und auch das aktuelle Wahlprogramm stufe ich unter Wolkenkuckucksheim ein. Regierung heißt immer, Verantwortung zu übernehmen und Verantwortung zu tragen.

Würden Sie erneut eine „Minderheitsregierung“ wagen?

Kraft: 2010 waren völlig andere Voraussetzungen, weil alle Gespräche gescheitert sind und keine Mehrheit zustande gekommen ist. Deshalb warten wir jetzt mal das Wahlergebnis ab. Wir kämpfen bis zur letzten Minute für eine starke SPD. Über alles andere zu spekulieren, macht keinen Sinn.

Das Land zahlt jeden Monat über drei Millionen Euro für Flüchtlingsunterkünfte. Nicht alle werden tatsächlich genutzt. Beispiel: Die Flüchtlingsunterkunft Opti Park in Essen steht leer, das Land zahlt trotzdem rund 250.000 Euro im Monat für nichts. Bis zum Ende des Mietvertrags werden so knapp 28 Mio. Steuergelder fällig. Land und Stadt können sich über eine vernünftige Nutzung der Immobilie aber nicht einigen. Die CDU spricht von „Organisationschaos“. Wie wollen Sie das in den Griff bekommen?

Kraft: Man muss dabei auch die besondere Situation bedenken, in der wir waren. 2015 kamen rund 330.000 Flüchtlinge nach NRW, die kurzfristig bei uns untergebracht werden mussten. Das war ein Gebot der Menschlichkeit. Teilweise mussten innerhalb weniger Tage oder sogar Stunden neue Unterbringungsplätze geschaffen werden. Eine absolute Notsituation, in der auch die Anmietung der Einrichtung „Opti Park“ erfolgte. Die Situation ließ es kaum zu, günstige Konditionen oder Verträge auszuhandeln. Klar ist aber auch: Wir streben eine zügige und wirtschaftliche Klärung an, wie die Einrichtung weiter genutzt werden kann. Dazu werden aktuell Gespräche geführt.

Thema Integration: Drei von vier türkischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern haben sich im Konsulat Essen für die umstrittene Verfassungsänderung des türkischen Präsidenten Erdogan ausgesprochen. In Düsseldorf waren es 70 Prozent. Ist das ein Zeichen von misslungener Integration in NRW?

"Fatal, von gescheiterter Integration zu sprechen"

Kraft: Es wäre falsch, anhand der Zustimmung für Erdogan generelle Rückschlüsse auf die politische Einstellung von Türkischstämmigen in Deutschland zu ziehen. In Deutschland leben 2,9 Millionen Menschen, die aus der Türkei stammen. Von ihnen sind 1,43 Millionen wahlberechtigte türkische Staatsangehörige. Davon haben 46 Prozent – also rund 658.000 Personen – gewählt, etwa 416.000 mit Ja für die Verfassungsänderung. Ich halte es für fatal und nicht richtig, wenn einige nun von gescheiterter Integration sprechen.

Was würden Sie sich von der türkischen Community wünschen?

Kraft: Ich möchte, dass sich die Menschen mit türkischen Wurzeln hier in unserer Gesellschaft einbringen. Ich möchte nicht, dass die Spaltung in der türkischstämmigen Gesellschaft in NRW erfolgreich ist, weil führende türkische Politiker gezielt die Karte spielen, Menschen mit türkischen Wurzeln seien in Deutschland nicht gewollt. Darauf setzt Herr Erdogan ja ganz offensichtlich. Deshalb braucht es dieses klare Signal. Für mich sind alle, die friedlich bei uns leben und unsere Gesetze und Werte achten, Nordrhein-Westfalen.

Die Fragen stellten der stv. NRW-Redaktionsleiter Martin Dubois und die Redakteure Detlef Leweux, Beatrix von Lauff und Frank Blum.

Autor:

Martin Dubois aus Essen-Süd

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