Ein Jahr vor der Bundestagswahl 2025
„Fröhlichkeit und Zuversicht“: Wie Spitzenpolitiker die Lebenswirklichkeit der Menschen ausblenden

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„Deutschlands Zukunft kann nur mit mehr sozialer Gerechtigkeit bewältigt werden“  (Club of Rome und Wuppertal-Institut)

„Fröhlichkeit statt Übellaunigkeit“ erwartet Kanzler Olaf Scholz vom deutschen Volk, das zu viel meckern würde statt anzupacken, wie er vor wenigen Tagen vor dem „Rat der Nachhaltigkeit“ kundtat. Und Bundespräsident Walter Steinmeier rief zeitgleich vor dem DGB das deutsche Volk zu mehr „Optimismus und Zuversicht“ auf. Doch die zurückliegende Oktoberwoche hatte es in sich: Innerhalb von nur drei Tagen holten uns die aktuellen Schlagzeilen auf den Boden der Tatsachen zurück in die ernüchternde Wirklichkeit, die unsere Spitzenpolitiker in Berlin einfach ausblenden und schönreden. Wahrlich kein Anlass für verordnete Fröhlichkeit und Zuversicht waren für die meisten Menschen diese aktuellen Meldungen (mit einer hoffnungsfroh stimmenden Ausnahme zum Schluss):

Armut und Bildung
• Jeder 5. Deutsche (18 Mio.) von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen
• Die Armut breitet sich in die Mittelschicht aus
• Fast 3 Millionen Kinder sind von Armut betroffen
• Steigende Bildungsarmut und 13% ohne Berufsausbildung
• Shell-Studie: Angst vor Armut bei Jugendlichen an zweiter Stelle
• Leistungskürzungen des Bürgergeldes und schärfere Regelungen

Armenspeisung
• Zahl der Tafelbesucher um 500.000 auf 2 Mio. angestiegen
• Tafeln in Deutschland laufen wegen des Ansturms leer
• 25% der Tafelbesucher sind Armutsrentner
• Suppenküchen für die Ärmsten der Armen als gesellschaftlicher Höhepunkt

Armutsrente und Pflegekosten
• Eine Mehrheit von 72% hält die Rente nicht mehr für sicher
• Bei jedem 5. Rentner liegt nach 45 Arbeitsjahren die Rente unter 1.200 €
• Die Pflege im Heim wird immer teurer und unbezahlbarer
• Zweifel an Lauterbachs „Pflegereförmchen“
• Steigende Beiträge zur Kranken- und Pflegekasse

Mieten und Wohnen
• Mietenwahnsinn: Die steigende Miete überlastet immer mehr Haushalte
• Dreimal so viele Menschen wie früher können ihre Miete nicht mehr zahlen
• Die Zahl der Sozialwohnungen ist erneut gesunken
• In Deutschland fehlen 800.000 Wohnungen
• NRW verzeichnet einen Rekord an Wohnungslosen
• Studenten ohne festen Wohnsitz finden keine Wohnung

Wirtschaft
• Die Insolvenzen steigen auf Rekordwert
• Bundesregierung rechnet auch 2024 mit Rezession
• Anhaltende Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln trotz sinkender Inflation

Kommunalfinanzen
• Finanznot: Den meisten Städten droht die Überschuldung
• Kommunen schlagen Alarm: Millionen Euro Defizite, hohe Sozialkosten
• Kommunen droht zum Jahresende Rekorddefizit

Armut und Reichtum
• Die Zahl der Superreichen in Deutschland stieg um 10% (weltweit Platz 3)
• Den reichsten 10% gehören 2/3 des Gesamtvermögens (für die ärmere Hälfte verbleibt 2%)
• Weltweit hungern 733 Millionen Menschen

Klima und Umwelt
• „Globaler Notfall“: Klimaforscher warnen vor nahender Katastrophe
• Wissenschaftler warnen: „Erdsystem im Anschlag“
• Der kranke Wald als Dauerpatient: 4 von 5 Bäumen sind krank
• Das Artensterben wird immer dramatischer
• Die Klima-Krise wird als bedrohlicher empfunden als die Corona-Pandemie
• Shell-Studie: Angst vor Umweltschädigung bei Jugendlichen auf Platz 3

Verkehr und Mobilität
• Vom Bahnchaos sind Reisende und Personal genervt
• Staus aus Autobahnen: Verlorene Lebenszeit im Land der Pendler
• Verkehrswende gescheitert: PKW-Dichte in NRW deutlich gestiegen
• Verkehrsrisiko durch Immer mehr Kiffer nach Cannabis-Freigabe

Sicherheit

  • Anstieg der Kriminalität um 5,5% auf fast 6 Mio. Straftaten

Rüstung und Lobbyismus
•  Weltweite Rüstungs- und Militärausgaben auf Allzeithoch
• Deutschland wird in diesem Jahr 72 Mrd. € für Verteidigung ausgeben
• Deutschland ist fünftgrößter Waffenexporteur in der Welt
• Deutsche Rüstungsexporte mit 12,2 Mrd. € auf Höchststand
   Die Lobbyisten gehen in der EU ein und aus
•  Waffenlobby will Rüstung als nachhaltige Kapitalanlage klassifizieren

Krieg und Frieden
• EU plant Atomschutzschirm und eigene Armee für Europa
• NATO-Militärmanöver beginnt Ernstfall-Übung mit Atomwaffen
• Shell-Studie: Angst vor Krieg nimmt unter Jugendlichen zu als größte Sorge
• Frieden in der Ukraine und in Nahost nicht in Sicht

Rechtspopulismus und Migrationpolitik
• Aufstieg des Rechtspopulismus: Rechtes Gedankengut auf dem Vormarsch
• Aufstieg der AfD löst bei Bevölkerungsmehrheit Ängste aus
• Menschenrechtsorganisationen kritisieren Migrationspolitik
• Umgang mit Flüchtlingen entspricht nicht humanitären Prinzipien
   Verletzung von Menschenrechtsstandards in der Flüchtlingspolitik
• Pro Asyl warnt vor „rechtswidrigen Verschärfungen“

Wo bleibt eine empathische „Ruckrede“ des amtierenden Bundespräsidenten?

Wo bleibt angesichts dieser politischen Realitäten eine „Ruckrede“ unseres blassen Bundespräsidenten, mit Empathie für die sozialen Verlierer und mit Ermahnung zu sozialer Gerechtigkeit und zur Abrüstung statt Aufrüstung, wie wir es die früheren sozialdemokratischen Bundespräsidenten Gustav Heinemann und Johannes Rau Heinemann darlebten? (Ist Steinmeier dazu überzeugend in der Lage, der seinerzeit als Schröders verantwortlicher Kanzleramts-Minister ein eifriger Befürworter eines prekären Niedriglohnsektors und anderer neoliberaler Reformen und Sozialkürzungen  war?)

Wo bleiben die entschlossen Initiativen der Ampelregierung vor dem Wahljahr?

Wo bleiben die entschlossenen Initiativen der Ampelregierung und ihres militärischen „Zeitenwende-Kanzlers“, der 2025 wieder als Kanzlerkandidat antritt? Reicht die „inhaltliche und strategische Weichenstellung“ seiner Partei vom letzten Montag mit sozialer Schwerpunktsetzung und überfälliger Steuergerechtigkeit aus, um die sozialökologische Transformation und auch eine überfällige Entspannungs- und Friedenspolitik nach dem Vorbild Willy Brandts (mit welchen Koalitionspartnern diesmal?) hinzubekommen?

Die geplante steuerpolitische Umverteilung ist schon mal ein richtiger Ansatz. Bislang hat es die SPD in Wahlkämpfen zwar immer vermocht, ihr soziales und einstmals linkes Profil als „Partei der kleinen Leute“ wieder hervorzukehren, um es dann aber im kompromissreichen Alltag der großen Koalition oder rot-grüner Konstellationen wieder abzulegen - oder sich von der kleinen Lobbyisten-FDP ausbremsen zu lassen.

Leitfaden für Deutschlands Zukunft“ mit zivilgesellschaftlichem Nachdruck umsetzen

Allzu große Hoffnungen, dass regierende Parteien das Wahlvolk zum Optimismus, zur Zuversicht oder sogar zur Fröhlichkeit veranlassen werden, dürften somit kaum aufkommen. Auch nicht allzu hohe Erwartungen auf einen erzkonservativen Heilsbringer und Multimillionär namens Friedrich Merz oder auf die in ihrem Markenkern kaum noch wiederzuerkennenden Grünen? Aber nicht Pessimismus, Traurigkeit und Depression wären daraufhin die richtige Antwort, sondern eigenes politisches Engagement.

Deshalb ist jetzt mehr denn je die aktive Zivilgesellschaft gefragt, die großen sozialen, gesellschaftlichen und ökologischen Zukunftsfragen und das Friedensbemühen aktiv voranzutreiben und die Parteien auf die richtige Spur zu bringen. Dazu gab es neben der Serie deprimierender Schlagzeilen und Nachrichten, wie zuvor zitiert, einen hoffnungsfroh stimmenden Bericht in den Medien: Aktuell haben der „Club of Rome“ und das „Wuppertal-Institut“ mit einem veröffentlichten „Leitfaden für Deutschlands Zukunft“ verdeutlicht: „Klimaschutz kann nur mit mehr sozialer Gerechtigkeit bewältigt werden.“ Und sie zeigen konkret auf, wie das gehen kann.

Tiefgreifende Veränderungen im sozialen Bereich notwendig

Dazu sind tiefgreifende, radikale Veränderungen im sozialen Bereich notwendig und unverzichtbar, wie die Forscher darlegen, mit Vorschlägen, was in Deutschland zu tun ist. Wirtschaftlicher Fortschritt muss demnach mit ökologischer Gesundheit und sozialer Gerechtigkeit in Einklang gebracht werden. Zentrale Maßnahmen sind Beendigung der Armut, Beseitigung der eklatanten Ungleichheit, Empowerment der Frauen, Aufbau eines für Menschen und Ökosysteme gesunden Nahrungsmittelsystems und Übergang zum Einsatz sauberer Energie – also alles das, was die deutschnationalen und neoliberalen Rechtspopulisten erst recht nicht auf dem Schirm haben.

„Veränderungen reichen direkt in den Alltag der Menschen hinein“

Die eigentlichen Herausforderungen der Energiewende liegen nach Einschätzung der Forscher durch die Verkehrs- und Wärmewende bis zur Jahrhundertmitte noch vor uns, „nicht zuletzt, weil beide Bereiche direkt in den Alltag der Menschen hineinreichen.“ Zugleich verweisen die Forscher auf bereits sichtbare positive Trends in der Energie- und Wirtschaftspolitik.

Zu wenig beachtet würden jedoch die schroffen Gegensätze zwischen Reich und Arm nicht nur global. Sondern auch innerhalb Deutschlands tue sich ein Graben auf zwischen denen, die viel zur Zerstörung unserer Lebensgrundlagen beitragen, und denen, die wenig beitragen, aber stark unter den Folgen leiden. Die Belastung für deren Haushalte würden sich ohne soziale Gerechtigkeit verschärfen, zumal vor allem in den finanzschwachen Kommunen zu wenig in den Erhalt öffentlicher Infrastruktur für die bedürftigen Menschen vor Ort investiert werde.

Mit Visionen und konkreten Vorschlägen die Gegenwarts- und Zukunftsprobleme lösen

Woran es den politischen Parteien trotz wohlfeil klingender Programmpapiere mangelt, sind solche nachhaltigen Visionen für die Zukunft und für das soziale Zusammenleben, mit konkreten Maßnahmen und Vorschlägen sowie Schritten, losgelöst von Ideologien und Lobbyinteressen. Die Tagespolitik in der Gegenwart muss sich visionär an der angestrebten Zukunft und an den betroffenen Menschen ausrichten, wenn sie zum Ziel führen soll. Das darf in den parteipolitischen Auseinandersetzungen des Bundestags-Wahljahres mit seinen Alltagsthemen nicht untergehen, sondern sollte von den aktiv zu beteiligenden Wählerinnen und Wählern eingefordert werden und in die Wahlprüfsteine einfließen.

Noch weitere 30 Jahre soziale Ungerechtigkeit und Armutsentwicklung sowie weitere Versäumnisse in der Klima- und Umweltpoltik sowie Friedenspolitik würde den sozialen Frieden, den Weltfrieden und unseren Planeten Erde gefährden. Konsequent nachhaltige Politik für die Menschen und die Natur muss anders aussehen als das, was uns bislang unzureichend dargeboten wird. Erst wenn erkennbare Zukunftsperspektiven für alle sichtbar werden, finden sich Optimismus, Zuversicht und Fröhlichkeit von selber ein, jenseits unzumutbarer und anmaßender Appelle von oben.

Wilhelm Neurohr, 15. Oktober 2024

> siehe auch früheren Artikel im Lokalkompass unter:
https://www.lokalkompass.de/duesseldorf/c-politik/was-wir-in-den-weihnachts-und-neujahrsansprachen-des-bundespraesidenten-und-bundeskanzlers-vermisst-haben_a1920154
 

Autor:

Wilhelm Neurohr aus Haltern

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