"Die Frage ist: Wir oder die FDP?" Grünen-Spitzenkandidatin Sylvia Löhrmann im Lokalkompass-Interview
Umfragen zufolge steuern die NRW-Grünen auf ein historisches Tief zu. Selbst der Einzug in den Landtag scheint fraglich. Spitzenkandidatin Sylvia Löhrmann zeigt sich kämpferisch: "Bis zum Schluss geben wir alles, was wir haben."
Die Umfragewerte für die Grünen haben sich in den letzten Monaten halbiert und sind im Keller angekommen, nämlich bei fünf bis sechs Prozent. Sie selbst schließen das Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde nicht mehr aus. Was ist die Ursache?
Löhrmann: Unsere Losung ist jetzt: kämpfen, kämpfen, kämpfen. Und alles andere interessiert mich, ehrlich gesagt, auch nicht. Es gibt doch nie nur einen Punkt, es werden verschiedene Faktoren sein. Es geht darum, für unsere Ziele zu kämpfen, für das, was wir geschafft haben und das, was wir noch besser machen wollen.
"Wir stehen auf manchen Politikfeldern im Wind"
Konkret haben Sie kürzlich den Schulz-Effekt genannt.
Löhrmann: Wir hatten ja bis Ende Januar zweistellige Werte. Dann ist Martin Schulz nominiert worden und seither gibt es auf Bundesebene erkennbar Bewegung. Und natürlich stehen wir bei bestimmten Politikfeldern im Wind: bei den Schulen, bei den Jägern, bei der Industrie, wenn wir sie zu ökologischen Innovationen auffordern. Aber Widerstand erzeugt auch Kampfgeist. Unsere Ziele sind klar, darüber gibt es keine inhaltliche Auseinandersetzung. Und es sind noch 14 Tage, da ist noch alles zu reißen.
An manchen Stellen ist es schon stürmischer Wind. Herrn Remmel könnte man fast als personifiziertes Feindbild von Bauern, Jägern und manchen Unternehmern sehen. Sie selbst werden für Unterrichtsausfall, Lehrermangel, Probleme bei der Inklusion und dem Hin und Her In Sachen G8/G9 heftig kritisiert. Da wird auch von Beratungsresistenz gesprochen.
Löhrmann: Wir haben zu allen Themenfeldern eine breite Beteiligung von Bürgern und Verbänden ermöglicht. Das ist zum Beispiel auch bei der Inklusion so, wo es einen Fachbeirat gibt. Für uns ist klar, dass wir dieses Menschenrecht nicht mehr aufgeben wollen. Also steuern wir nach und verbessern dort, wo es nötig ist. Das weiß ich sehr wohl! Und ich habe gerade auch nochmal mit letzten Haushalte weitere 900 Stellen für die Inklusion durchgesetzt, die jetzt Schritt für Schritt besetzt werden. Thema G8/G9: Erstens ist das eine verkorkste Erbschaft. Die Einführung kam aktionistisch von CDU und FDP. Auch da haben wir an Runden Tischen Veränderungen besprochen, die in Schulen wirksam werden. Und trotzdem ist klar geworden, es trägt nicht, und deshalb haben die Grünen sich besonnen auf das, was grüne Schulpolitik ausmacht: Das Kind muss in den Mittelpunkt gestellt werden, daran müssen sich Strukturen orientieren und deswegen die individuelle Lernzeit entlang der Lern- und Leistungsentwicklung der Kinder. Deshalb gibt es an Gymnasien auch G9 und an Gesamtschulen auch G8. Und auch da haben wir tolle Schulen, die das schon heute machen und immer, wenn es gute Schulen gibt, die das machen, bin ich motiviert, das in die Fläche zu tragen.
Inklusion: "Eltern sind keine Bittsteller mehr"
Was würden Sie denn als grüne Erfolge sehen, mit denen Sie bei Ihrer Klientel punkten können?
Löhrmann: Eines unserer Hauptversprechen war, unsere Kommunen als Lebensorte der Menschen zu stärken. Das ist auch eine Gerechtigkeitsfrage, denn: Nur Reiche können sich arme Kommunen leisten. Wir haben es mit hohen Zuweisungen über den Stärkungspakt geschafft, dass es von 138 Kommunen aus dem Nothaushaltsrecht nur noch neun gibt. Das sind noch neun zu viel, aber das ist ja eine enorme Strecke. Wir wissen, dass wir als Land unheimlich viel getan haben. Jetzt gibt es nochmal zwei Milliarden für das Programm „Gute Schule 2020“, das die Sanierung von Schulgebäuden und die Verbesserung der digitalen Ausstattung bewirken soll. Wir haben den Ganztag massiv ausgebaut: Alle Kinder, die wollen, bekommen einen Ganztagsplatz bei uns, der Anteil ist von 29 Prozent auf 40 gewachsen. Bayern hat 15 Prozent! Wir haben den schulpolitischen Reformstau mit dem Schulkonsens aufgelöst. Vor Ort sind 230 Schulen des "Länger gemeinsam Lernen"s entstanden. Ein Beitrag zu mehr Bildungsgerechtigkeit. Und die Inklusion, das Menschenrecht, haben wir gesetzlich verankert: Eltern sind nicht mehr Bittsteller. Früher gab es Zwangszuweisungen an Förderschulen, heute haben die Eltern das Recht zu entscheiden, ob allgemeine Schule oder Förderschule. Diesen herausfordernden Veränderungsprozess begleiten wir mit Fortbildungen und zusätzlichen Stellen. Insgesamt werden rund 1,2 Milliarden Euro bereit gestellt. Wir begleiten den Prozess eng und steuern nach, um die Inklusion zum Erfolg zu führen.
Das ist offensichtlich nicht angekommen, denn nur sechs Prozent trauen den Grünen die größte Kompetenz in Sachen Bildung zu. Was läuft da falsch?
Löhrmann: Sie greifen jetzt einen Wert heraus. Es ist ja auch behauptet worden, das wäre ein riesiger Zickzackkurs bei meinen Zustimmungswerten. Ich habe mir das nochmal angeguckt. Beim Thema Zufriedenheit mit meiner Arbeit sind die Werte mit 25 bis 28 Prozent über die Jahre relativ stabil. Das sind immer mehrere Faktoren. Die Leute wissen, dass ich für gute Bildung kämpfe.
Was sagen Sie diesen Leuten in den letzten Wahlkampftagen?
Löhrmann: Ich sage ihnen, dass wir für Bildungsgerechtigkeit kämpfen, dass wir an besseren Ergebnissen arbeiten. Ich sage ihnen aber auch, dass noch keine Schulministerin so viele zusätzliche Ressourcen rausgeholt hat, nämlich vier Milliarden Euro Zuwachs im Etat seit 2010 mit 18.000 zusätzlichen Lehrerstellen. Das wissen die Beteiligten auch. Trotzdem gibt es Kritik und es gibt den Wunsch nach mehr, das ist auch völlig in Ordnung. Aber alle wissen, der Schulkonsens ist gut und richtig, der Ganztagsausbau ist gut und richtig, und es wird viel investiert.
Ist das Rennen um die Staatskanzlei entschieden?
Zurück zum Landtag. Wenn Sie wieder einziehen, wollen Sie nicht mit jedem regieren. Sie haben Jamaica jetzt ausgeschlossen.
Löhrmann: Das habe ich nicht erst gestern gesagt, dass sage ich eigentlich die ganze Zeit. Dass wir in NRW mit der SPD regieren wollen, dafür bin ich lebender Beweis, weil wir 2010 ja auch sehr gedrängt haben, dass Herr Rüttgers aus der Staatskanzlei raus und Frau Kraft rein kommt. Es scheint ja ziemlich eindeutig zu sein, dass das Rennen um die Staatskanzlei entscheiden ist, Frau Kraft wird’s werden und die Frage ist, wer ist dabei: wir oder die FDP?
Hannelore Kraft kann sich die Zusammenarbeit mit der FDP offensichtlich vorstellen. Sie spricht jedenfalls mit Herrn Lindner.
Löhrmann: Herr Lindner steht ja gar nicht zur Wahl, obwohl er auf dem Stimmzettel steht. Herr Lindner will ja gar nicht hier bleiben, sondern stellt seine Karriereziele über das Wohl des Landes. Für uns ist klar, wir wollen unsere soziale, ökologische, humane, aufklärerische Politik fortsetzen. Mit der FDP wird die Politik in NRW sicher nicht sozialer, und sicher auch nicht ökologischer.
Stimmungsschwankungen bei Rot-Grün
Es scheint, dass die Chemie zwischen Ihnen und der SPD schlechter wird. Minister Groschek macht die „durchgrünte Gesellschaft“ für Verkehrsprobleme verantwortlich. Wegen der Sammelabschiedung von Asylbewerbern ist es zu einem offenen Koalitionskrach gekommen. Abschiedsstimmung?
Löhrmann: Wir sind ja nicht eine Partei, sondern zwei verschiedene Parteien. Wir stellen heraus, wo es Unterschiede gibt. Wenn die Gesellschaft „durchgrünt“ ist, ist das ja erstmal ein Kompliment von Herrn Groschek für Grüne Politik. Und wenn es um die Gestaltung geht, etwa beim Thema Flächen oder frische Luft in Innenstädten oder Elektromobilität, da spielen wir „Grün“ natürlich ganz stark. Ich dachte auch immer, dass die SPD da weiter sei. Es hieß schon bei Rau, man müsse Ökonomie und Ökologie versöhnen. Davon entfernen sich einige Sozialdemokraten und machen dort Feindbilder auf, wo es aus unserer Sicht nicht angemessen ist. In der Innovation, gerade auch bei Elektromobilität, liegt ja die Zukunft von Zulieferarbeitsplätzen. Wir haben da eine Win-Win-Situation. Verbraucher wollen ordentliche, bezahlbare Autos, die Menschen wollen, dass es leiser und sauberer wird in ihrem Umfeld, und der Industrie müssen wir Beine machen, damit die Arbeitsplätze nicht in China oder Fernost sind. Deswegen ist Grün so wichtig in der Regierung. Und was die Abschiebung nach Afghanistan angeht: Wir hatten die Absprache in NRW, dass es keine Abschiebung in Kriegs- und Krisengebiete gibt. Jetzt organisiert die für das Thema verantwortliche Bundesregierung Gruppenabschiebungen. Sigmar Gabriel wäre in der Pflicht, eine neue Lageeinschätzung vorzunehmen. Die würde zu dem Ergebnis kommen, dass es in Afghanistan keine sicheren Regionen gibt. Das bestätigen uns auch Menschenrechtsorganisationen und Kirchen. Dass der SPD-Außenminister das nicht tut, finde ich unverantwortlich.
Könnten Sie sich Rot-Rot-Grün vorstellen?
Löhrmann: Gespräche mit den Linken schließen wir nicht aus. Anderes ist mir aber viel wichtiger: Rechtspopulisten aus diesem Parlament herauszuhalten. Vielfalt und Toleranz sind Markenzeichen von NRW.
Eine Minderheitsregierung wäre für Sie auch machbar?
Löhrmann: Die Frage stellt sich für mich so nicht. Politik ist nicht schematisch. Man kann nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen, weil sich da Dinge verändert haben. Da ich davon ausgehe, dass die SPD vorne liegen wird, stellt sich die Frage, gibt es eine Große Koalition des Stillstands, gibt es Sozial-Marktradikal oder eben Rot-Grün. Wir kämpfen für starke Grüne, damit es für Rot-Grün reicht.
Es heißt, dass manche Grüne in der Fläche keine Lust auf diesen Wahlkampf haben, dass teilweise nicht mal alle Plakate geklebt wurden. Verstehen Sie diese Stimmung?
Löhrmann: Vereinzelte Kritik gibt es immer. Aber insgesamt kämpfen alle hochmotiviert. Das erlebe ich an der Basis bei meinen Wahlkampfterminen oder beim Haustürwahlkampf mit den Direktkandidaten, wo wir überwiegend freundlich empfangen werden. Aus Einzelaspekten wird gerne was hochgejazzt. Wir sind keine von oben durchregierte Partei.
Werden Sie Ihre Strategie im Endspurt des Wahlkampfes ändern?
Löhrmann: Wir wissen, dass die Menschen sich erst ganz am Schluss entscheiden. Zwei Tage vor der Wahl in den Niederlanden wussten zum Beispiel 70 Prozent noch nicht, wen sie wählen werden. Da ist noch viel möglich. Unsere Wähler sind kritisch und müssen immer wieder neu gewonnen werden. Deshalb strengen wir uns jetzt alle gemeinsam an und wollen sie wieder überzeugen.
Das Interview mit Sylvia Löhrmann führte der stv. NRW-Redaktionsleiter Martin Dubois
Autor:Martin Dubois aus Essen-Süd |
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