Geschichte: Körperteile sprechen mit mir - meine Beine
Meine Mitmenschen können meistens nicht verstehen, wenn ich sage, ich müsse erst mit meinen Beinen reden, damit ich Ihnen zusagen könne, ob ich käme oder nicht. Das ist wirklich wahr! Oft benehmen sich meine Beine wie Kinder. Sie reagieren spontan, plötzlich und unerwartet. So möchte ich mal kurz ein Beispiel anführen, um zu zeigen, wie erstaunlich das für mich ist.
Meine Physiotherapeutin erklärte mir, dass ich eine Tetraspastik hätte. Eine solche Spastik betrifft alle vier Gliedmaßen: beide Arme und beide Beine. Eine Spastik ist eine Verkrampfung, die man nicht steuern kann. Das bedeutet, dass ab und zu eine Verkrampfung eintritt ohne dass ich es vorher weiß. Ihr könnt euch alle vorstellen, dass so ein Krampf ziemlich gefährlich werden kann, nämlich dann, wenn ich eine Straße überqueren muss. Ganz schnell muss ich mich an einem Pfosten anklammern, einen Pfahl umarmen sozusagen. Für herumstehende Menschen sieht das lächerlich aus. Nun versuche ich euch die Geschichte zu erzählen als ob meine Beine zu mir sprächen. Oft sind es nur Signale, die sie mir geben. Je nachdem wie ich gelaunt bin kann ich sehr gut gehen, doch manchmal gerate ich plötzlich ins Stocken. Eines Tages passierte folgendes:
Erdbeereis im Kaffee
„Heute haben wir etwas Schönes vor, etwas ganz schönes! Also werden wir Beine uns sehr flott bewegen, um das Ziel sehr schnell zu erreichen. Endlich gibt es Erdbeereis - shake. Alles ist so schön und entspannt, wir lieben es! Ohne Probleme schlendern wir die Hauptstraße entlang und nähern uns der Eisdiele. Den Rest übernimmt der Mund: das Grüßen, die Bestellung und das Essen natürlich. Lecker, und je besser es schmeckt, desto entspannter sind wir. Am Ende wird unser Mensch nervös und kramt im Portmonee herum. Irgendwie spüren wir dann ein Kribbeln, sind jedoch trotzdem entspannt genug, um uns vom Stuhl zu erheben. Geschickt nehmen wir Kurven, biegen um Tische herum und nehmen jeden Schritt ohne Probleme. So weit ist der Mensch zufrieden, sehr zufrieden sogar. Je nachdem, wie unsere Stimmung ist, kann sich das schlagartig ändern. Von weitem kommt die 701. Das ist eine Straßenbahn, die mich nach Rath fährt. Die Bahn will der Körper natürlich unbedingt kriegen. Also soll ich zum Spurt ansetzen. Das will ich aber überhaupt nicht! Ihr denkt sicher, wir wären jetzt Kinder. Das ist uns aber scheißegal! Wir möchten langsam gehen! Deshalb ziehen die Sehnen am Bein und die Muskeln verkrampfen sich plötzlich. Es ist so gut wie kein Vorwärtskommen möglich. Was kann mein Körper da machen? Er könnte zum Beispiel lieb mit uns sprechen. Das macht man doch auch mit Kindern, die lieb angesprochen werden wollen. Stattdessen schimpft die Person mit uns herum. Das bringt bei uns gar nichts, damit kommt er nicht durch. Unsere Muskeln verkrampfen schmerzhaft - und die Bahn bekommt er auch nicht. Wenn wir jetzt lächeln könnten, dann würden wir es auch tun. Stattdessen verzerrt sich der Mund voller Schmerzen. So kann es gehen, wenn man uns ärgert. Gleichzeitig sind wir aber auch gute Indikatoren, damit der Mensch weiß, was ihm gut tut. Läuft er zu viel, dann bekommt der Schmerzen. Macht er zu viel und zu hektische Sachen, dann muss er es büßen. Wirklich – wir lieben es, wenn die Hand uns streichelt und der Mund uns liebevoll zuflüstert: „Das macht ihr fein! Ihr lauft richtig schnell und locker. Ich bin richtig stolz auf euch! - Heute wird ein schöner Tag.“ Die meisten Menschen brauchen solche Anzeiger, solche Indikatoren, die ihnen ganz deutlich zeigen, was Spaß macht und was Frust und Ärger bereitet.“
Der Eigensinn der Beine
Damit endet die kurze Geschichte, die sich in der Innenstadt abgespielt hatte und die zwar banal erscheint, jedoch einen wahren Hintergrund hat. Immer wenn ich etwas mache, das mir Freude macht, dann kann ich gehen. Bei schlechten Nachrichten oder Stress verspanne ich mich derart, dass es für mich unmöglich ist mich fortzubewegen. Und da nutzt mir auch kein Rollator etwas. Umständlicher Weise muss ich den Rollator ja erst die Treppen herunterschleppen, um ihn dann zu benutzen. Jede Unebenheiten des Bodens überträgt sich über die Stangen und schüttelt meine Arme durch. Das vermittelt mir ein unsicheres Gefühl, entlastet jedoch ein bisschen die Beine. Doch was nutzt es mir, wenn die Spastik einsetzt?
Gleich erzähle ich noch mehr Geschichten über meine Beine. Oft denke ich, meine Beine könnten denken als wären sie mein Kopf. Beine werden doch vom Kopf gesteuert, vom Gehirn, oder nicht? Manchmal glaube ich, dass sie selber entscheiden, was sie möchten. Sie entscheiden kindlich naiv, nach ihrer Lust und Laune. Deshalb finde ich sie manchmal unberechenbar und es ist beruhigend für mich, wenn sie durch leichtes Kribbeln oder Ziehen schon ankündigen, was sie vorhaben.
Morgens früh ist es dann besonders schlimm, wenn ich aufwache. Ich mache dann Entspannungsübungen, wobei sich jegliches Räkeln in einer schmerzhaften Verspannung niederschlägt. „So ein scheiß“, denke ich dann - „Muss das denn schon wieder sein?“ Dann kann ich mir selber die Antwort geben – natürlich muss das sein, denn meine Beine haben keine Lust, aufzustehen. Im Hintergrund höre ich mein Unterbewusstsein, eine erziehende Stimme, die mir ein flößt, dass ich nicht machen könne, was ich wolle, sondern jetzt aufzustehen habe. Doch das ist die Krankheit, nämlich dass Körperteile unkontrolliert reagieren, wie sie möchten. LG: Roland
Autor:Roland Jalowietzki aus Düsseldorf |
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