Mein altes Zimmer

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Gestern war ich wieder dort
Allein mit mir und meinen Gedanken schlich ich die Treppe hinauf. Stufe um Stufe, ganz leise. Meine rechte Hand glitt sanft über den glänzend braun lackierten Handlauf des hölzernen Treppengeländers. Ich würde es unter Denkmalschutz stellen lassen, wollte je ein anderer als mein Vater das Haus bewohnen. Verdient hätte das Geländer diesen Schutz allemal, immerhin haben inzwischen vier Generationen seine Dienste in Anspruch genommen, in nunmehr über hundert Jahren. Liebevoll streichen meine Hände über die kunstvollen Stäbe, die Anfang des vorigen Jahrhunderts in Urgroßvaters Drechslerwerkstatt von ihm selbst gefertigt wurden.

Auf dem Weg zum Dachgeschoss ist es auch der Geruch, der mich ein wenig wehmütig stimmt mit der Erinnerung, dass nahezu zwanzig Jahre meines Lebens dort oben mein Reich gewesen ist. Es ist der Geruch von zu Hause, den die Nase irgendwie gespeichert hat über die Jahre hinweg, seit ich nicht mehr da wohne, in meinem alten Zimmer.

Ich ging schon in die Schule, als wir das Dachgeschoss ausbauten, weil es zu eng wurde in der Wohnung meiner Eltern, als das Brüderchen kam.
Eingerichtet wurde mein Zimmer nach dem Geschmack meiner Mutter. Sie war so angetan von der perlmuttartigen Front der Möbel, die sie mal irgendwo gesehen hatte. Genau damit wurde das Zimmer ausgestattet. Spartanisch war die Einrichtung. Das Mobiliar bestand aus dem Bett sowie einem Nachttischchen, einem dreitürigen Kleiderschrank und einer sogenannten Frisierkommode. Dieses Prachtstück, eine Kommode auf vier Stelzfüßen mit aufgesetztem dreigeteiltem Spiegel war Mutters und somit auch mein ganzer Stolz. Drei weiße Deckchen zierten die aufliegende Glasplatte. Auf ihnen prangte die sogenannte Waschtischgarnitur aus gräulichem Rauchkristall, modern für die damalige Zeit. Es war eine längliche Schale für Kamm und Bürste, eine quadratische mit Deckel sowie ein Flakon für Parfum, mit einer Sprühvorrichtung, die mittels eines strickstoffüberzogenen Blasebalges ausgelöst wurde.
Benutzt wurde das alles nicht, da mangels Waschgelegenheit im Zimmer die Morgen- sowie Abendtoilette ohnehin in der elterlichen Küche stattfand. Es war alles nur Zierrat.

Der absolute Clou jedoch war mein dreibeiniger Frisierhocker. So seriös Mutters Geschmack auch bei der Auswahl von Möbeln, Tapeten und Bodenbelag war, dieser Hocker war mit seiner Farbe pink der Knaller im Raum. Der Frisierhocker war so zottelig, dass er eher ständig von mir frisiert werden musste als dass ich darauf hockte um mich gar selbst zu frisieren.

An den drei Schlüsseln der Kleiderschranktüren hingen als Verzierung Bommeln, die eigentlich beim Öffnen des Schrankes nur störend waren, doch das war eben damals so Mode.

Ansonsten gab es nicht viel, nur noch eine kleine phosphorisierende Mutter Gottes aus Kevelaer, die einzige Lichtquelle in dunkler Nacht, sowie kleine Väschen, die liebevoll mit Blümchen aus dem Garten bestückt wurden.
Das Zimmer diente in den ersten Jahren nur zum Schlafen, denn das eigentliche Familienleben spielte sich in der elterlichen Wohnung ab, was auch mangels Heizmöglichkeit des Zimmers im Winter sowie brütender Hitze im Sommer durch fehlende Isolierung sicher zweckmäßig war.

Erst später während meiner Jugendzeit, als mein Traum in Form eines Dual-Plattenspielers in Erfüllung ging und ich weder Kälte noch Hitze wahrnahm, wenn Terry Jacks zwanzig mal so gut wie einmal „Seasons in the Sun“ schmalzte und die Nadel des Plattenspielers immer wieder die Stelle fand, wo er vom „Black Sheep in the family“ singt, da wurde das Zimmer auch tagsüber zum Refugium.
Das Woodstock-Poster zog ein und von Woche zu Woche wuchs Winnetou von den Füßen bis zum Haarschopf, der Starschnitt aus der Bravo zierte die Wand lange Jahre.

Ein roter Stuhl und diverse Urlaubsmitbringsel von der Nordsee lockerten allmählich das sterile Ambiente des Zimmers auf.
Als ich mein erstes Geld verdient hatte, kaufte ich mir endlich neue Möbel nach meinem Geschmack und die alten Sachen verschwanden auf dem Speicher.

Nachdem ich aus dem Elternhaus ausgezogen war, übernahm mein Bruder das Zimmer. Als dieser Jahre später auch das Haus verließ, holte meine Mutter tatsächlich die Perlmuttmöbel in einer Nacht- und Nebelaktion vom Speicher und baute alles wieder im Zimmer auf. Als Erinnerung an schöne Zeiten, so sagte sie.
Unverändert steht es bis heute da.

Und nun stehe ich auch da, neben dem Kleiderschrank, aber die Bommeln sind abhanden gekommen. Vor der Frisierkommode, doch es fehlt die Waschtischgarnitur, denn die ist bei mir zu Hause, allerdings ist der Parfümflakon leider schon vor längerer Zeit zerbrochen und der strickstoffüberzogene Blasebalg in den Müll gewandert.
Ich stehe neben meinem alten Bett mit der dreiteiligen Matratze und denke an die vielen durchlesenen Nächte mit der Taschenlampe unter der Bettdecke, an die Tränen und Jungmädchenträume, die dort für immer gespeichert sind. Das Bett ist hergerichtet, man könnte sich so hineinlegen.

Der Frisierhocker ist nicht mehr da. Ich erinnere mich, er hatte mal unheilbar alle Beine gebrochen.
Wo mag das Woodstock-Poster sein?
Auf dem kleinen Nachtschränkchen steht ein vorsintflutlicher Wecker und zeigt eine falsche Zeit an. Ich glaube fast, sie ist stehen geblieben, die Zeit in meinem alten Zimmer.

Ich gucke in den dreiteiligen Spiegel und schaue mich noch einmal um. Wir sind älter geworden, mein altes Zimmer und ich.

Dann gehe ich wieder hinunter, nun streichelt meine linke Hand den Handlauf des Treppengeländers. Ich atme ihn noch einmal ein, den Geruch, ein wenig muffig, nach unbenutzt und alten Tapeten. Aber für mich ist es der Geruch von zu Hause.

Vater hat es gar nicht bemerkt, dass ich dort oben war, in meinem alten Zimmer.

Wir reden über Fußball.

Autor:

Birgit Schild aus Düsseldorf

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