Horrorskop

So etwas lese ich normalerweise überhaupt nicht. Heute blieb mein Blick auch nur zufällig auf der Rückseite des Kreuzworträtsels hängen, weil der Kugelschreiber bei „Flüsschen in Baden“ zwei dicke Kringel durchgeschrieben hatte. Und die befanden sich unmittelbar über dem Wochenhoroskop des Tierkreises meiner Mutter. Was ich las versetzte mir einen Stich in die Herzgegend: Intrigant – Schaden – Schranken – Mutter. Um Gottes Willen, spielt denn die schlimme Nachbarschaft wieder übel mit? Ich las mir den Text etwas genauer durch:

„Finden Sie nicht, dass ein Intrigant in Ihrer unmittelbaren Umgebung nun mehr Schaden angerichtet hat, als zu ertragen ist? Es wird Zeit, dass Sie ihn in die Schranken weisen.“

Das Telefon war schnell zur Hand. Während das Freizeichen an mein Ohr drang, überlegte ich mir eine geschickte Frage, um schnellstens an den Kern meiner Beunruhigung zu gelangen. Vor meinem geistigen Auge sah ich sie in der Küche aufhorchen, den Flur überqueren und mit einer Hand auf dem Rücken vornübergebeugt sich dem Telefon nähern. Endlich meldete sich die vertraute Stimme.

„Hallo?“ Wir wechselten die üblichen Begrüßungsformeln.
„Geht es dir auch gut?“ begann ich mit meiner unverfänglichen Frage.
„Wieso fragst du so?“
„Ich meine nur, du hättest mir erzählt -“
„Ach weißt du, es ist immer dasselbe mit euch Kindern: Kaum erhebt man mal die Stimme zu einer persönlichen Mitteilung, schon klappert das Buschtelefon und die Maus wird zum Elefanten.“
„Mücke“, rutschte mir unversehens heraus.
„Wie bitte?“
„Es heißt: die Mücke wird zum Elefanten.“
„Ach hör doch auf mit den Wortspaltereien. Ich bin schließlich eine alte Frau. Weißt du denn, was der Hausmeister gerade heute Morgen zu mir gesagt hat?“ Ich hielt die Luft an.
„Frau Cochino, hat er gesagt, das Schlimme an den eigenen Kindern ist das Misstrauen gegen die eigenen Eltern.“
„Wie“, fragte ich, „wie hat er Das denn gemeint?“
„Na überleg´ dir das einmal: Du rufst mich an, wie aus heiterem Himmel und fragst ganz hinten herum ob und so weiter und im gleichen Atemzug teilst du mir mit, dass ich nicht alle Tassen -“
„Aber Mutter, ich habe doch nur -“
„Geh´, sei bloß still. Soll ich dir sagen, was ich vorhin in der Zeitung gelesen habe?“
„Dein Horoskop“, platzte es aus mir heraus.
„Unsinn. Alt bin ich, vergesslich auch. Aberglauben lasse ich mir jedoch nicht anhängen.“
„Ja, was stand denn in der Zeitung?“ Es raschelte am Ende der Leitung.
„Mutter?“ Es raschelte weiter.
„Warte … Ein Spruch. Ein sehr guter Spruch. Von – Moment mal – hier steht es: Friedrich Nietzsche. Willst du ihn hören?“
„Ach Mutter, dass du so was liest -“
„Ja, was meinst du denn?“
„Nun sag schon, den Spruch?“ Einen Moment schwieg sie. Ich stellte mir vor, wie sie die Zeitung etwas weiter von sich weg streckte, um die Zeile zu finden. Dann ihre Stimme:
„Gewissensbisse erziehen zum Beißen.“
Mir blieb eine Antwort im Hals stecken.
„Da denk mal drüber nach.“, sagte meine Mutter und legte auf.

Autor:

Monica Cochino-Monte aus Düsseldorf

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