Eine kleine Dackelgeschichte
Verschlafen rieb Waldi über seine rehbraunen Augen. Irgendetwas oder Irgendwer hatte ihn geweckt. So musste sich Dornröschen gefühlt haben, als sie aus ihrem hundertjährigen Schlaf erwachte. Blinzelnd schaute er umher. Erschreckt riss er seine Augen auf. Das durfte doch nicht wahr sein. Er lag in einem Karton, der einen muffigen Gestank verströmte. Waldi musste kräftig niesen. Das war nichts für seine empfindliche Dackelnase. Er reckte und strecke sich, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und stellte sich auf die Hinterbeine.
Mit seiner langen Schnauze stubste er gegen den Kartondeckel, bis dieser nachgab und die Sicht auf Mehr freigab. Dieses Mehr entpuppte sich als ein Dachboden, auf dem noch viele andere Kartons, Kisten, eine alte Holztruhe, zwei Lederkoffer, mehrereTeppiche, ein Bügelbrett, einige Eimer, jede Menge anderes Gerümpel und ein mannshoher, halbblinder Spiegel herumstanden.
Waldi legte seine Vorderpfoten auf den Kartonrand, ging leicht in die Knie und setzte schwungvoll gekonnt, wie Turnvater Jahn, über die Kante. Federnd landete er auf den alten Holzdielen. Dabei wirbelte er so viel Staub auf, dass Waldi dreimal kräftig niesen musste. Die Staubflocken bedankten sich dafür mit einem wilden Tanz, der ihn an Schneeflocken im Wintersturm erinnerte. Das durch die Dachluken hereinfallende Sonnenlicht verstärkte diesen Effekt. Einen Moment hielt Waldi inne und verfolgte mit hellwachen Blitzaugen das ungebärdige Spiel.
Dann aber durchfuhr ein Ruck seinen schmalen Körper und seine stolze Rute stand senkrecht nach oben. Es gab jetzt Wichtigeres zu tun. Er musste herausfinden, wer oder was ihn geweckt hatte. Noch einmal blickte er umher. Diesmal nahm er sich Zeit und betrachtete jedes Detail. Der Fußboden war nicht überall staubig. Es gab ziemlich in der Mitte eine breitere Spur, die auf der einen Seite zu einer Treppe führte und auf der kaum Staub lag. An der anderen Spurseite standen gestapelte Kartons, wie der seine, die dort auf ihren Abtransport warteten. In seinem schlauen Dackelhirn arbeitete es wie in einem Uhrwerk. Wäre ein Zuschauer anwesend, hätte er es hören können.
Waldi wurde schlagartig klar, dass er das Weite suchen musste, wenn er nicht auf einem Sperrmüllhaufen landen oder in einer Müllpresse verenden wollte. Vorsichtig schlich er zu dem Spiegel und schaute hinein. Was er sah, gefiel ihm. Nur wer ihm die kurze Kordhose und die komischen Schuhe angezogen hatte, das konnte er sich beim besten Willen nicht erklären. Egal jetzt. Vielleicht würden sie ihm bei seiner Flucht gute Dienste leisten. Es war an der Zeit, sich davon zu machen.
Vorher musste er aber noch etwas erledigen, sonst könnte er nie wieder reinen Gewissens einen Schlummer halten und von Hasen träumen.
Waldi huschte von Karton zu Karton, von Kiste zu Kiste und zu den beiden Lederkoffern. Er klopfte überall, fragte flüsternd, ob noch jemand eingesperrt wäre, ließ auch die alte Holztruhe nicht aus und schaute in alle Eimer. Erst als er sich versichert hatte, dass er das einzige Lebewesen auf diesem Dachboden war, sauste er zur Treppe und spähte nach unten. Freie Bahn. Kein Feind in Sicht. Mit wehenden Ohren gab er Vollgas. Flitzte wie ein geölter Blitz die Treppe hinunter – und hatte das Glück gepachtet: weit und breit kein Mensch zu sehen, der ihn aufhalten konnte! Ein Luftzug kitzelte seine Nase. Ein Duft nach Freiheit durchströmte seine Nasenmuscheln, dem er wie ferngesteuert folgte. So gelangte er durch die angelehnte Haustüre nach draußen, preschte um die Ecke und rannte im Dackelgalopp davon.
Nach gefühlten fünf Stunden blieb er hechelnd stehen und sondierte die Lage. Gar nicht so übel, befand er. Ganz in seiner Nähe gab es einen Park mit einem kleinen See, auf dem schnatternd die Enten vom kommenden Frühling erzählten. Ein guter Ort für einen Dackel, der durstig und hungrig war. „Hähähä …“
Nachdem er sich dort gestärkt hatte, würde er sich Gedanken über sein weiteres Leben machen. Wohin ihn auch immer sein Weg führen würde, ER, „Waldi vom Vorwerk“, würde sich nicht klein kriegen lassen und Jedem, egal ob klein oder groß, die Dackelstirn bieten. Jawohl!
Waldi war auf einmal hundemüde. Die letzten Stunden hatten ihm Kraft gekostet, aller Elan war verpufft. Er schlurfte in den Park und suchte sich unter einem Rhododendron ein gemütliches Plätzchen, an dem er sich erholen konnte. Schläfrig schnaufte er durch, rollte sich zu einer Dackelkugel und Sekunden später sah man durch seine leicht geöffneten Augen die Nickhäute blitzen.
Waldi war angekommen. Er hatte das Tor zum Traumland gefunden. Dort würde er sicher die Lösung finden, wie er endlich ein glückliches Leben führen könnte...
ohne muffigen Gestank in seltsamen Klamotten ;-)
Diese Geschichte schrieb ich für meinen Roger, der seit 99 Monaten mein Herz und meine Seele berührt.
Waldi vom Vorwerk passt nun auf unseren Zoo auf – dank ebay ;-)
Text und Foto © Doris Sponheimer
Autor:Doris Sponheimer aus Düsseldorf |
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