Das kleine Weihnachtswunder

„Diese Geschichte ist nicht erdacht, sondern erlebt – gewissermaßen am eigenen Leibe.“
So schrieb mein Schwiegervater kurz vor seinem Tod und bat mich, seine Geschichte doch in einem Schreibforum zu veröffentlichen, da er mit Interesse verfolgte, dass einige ältere Autoren ebenfalls ihre Kriegserlebnisse niederschrieben.

Hier nun sei sein Wunsch erfüllt, es ist seine Weihnachtsgeschichte, sein Weihnachtswunder:

„Man schrieb das Jahr 1945. Ein furchtbarer Krieg war zu Ende. Ich war froh, mein Leben gerettet zu haben, doch der Weg nach Hause war versperrt. Fast eineinhalb Jahre amerikanische Gefangenschaft in Frankreich folgten.

Im Herbst 1945 wurde ich mit über 100 anderen Gefangenen in ein kleines Lager nach Roubaix verlegt – man lese und staune: in ein Schloss. Das heißt: Im Schloss waren etwa 16 amerikanische Wachsoldaten untergebracht, während wir Gefangenen in acht Zelten im vom Stacheldraht umgebenen Garten kampierten. Da wir bisher Schlimmeres erlebt hatten, waren wir dennoch zufrieden und haderten nicht mit unserem Schicksal. Neben dem Heimweh machte uns die Langeweile zu schaffen, und jeder suchte mit mehr oder weniger sinnvoller Beschäftigung die Freizeit totzuschlagen.

Eine Gruppe wurde von den Amis eingeteilt, tagsüber Arbeiten im Güterbahnhof Roubaix zu verrichten. Dort trafen täglich Materialien und Gegenstände ein, die von uns sortiert, konserviert, in Seekisten verpackt und für den Abtransport versandfertig gemacht wurden. Dort bot sich für uns die Gelegenheit, Werkzeuge aller Art, Materialien aus Holz, Metall, Leder und Stoff zu „organisieren“. Gesammelt wurde alles in der zum Schloss gehörenden Remise, einem großen Raum, der wohl früher der Unterbringung von Kutschen und Karossen dienste. Hier durften wir in unserer Freizeit werkeln – jeder nach seinem Können.

Und dann entstand eine Idee: Ein Mitgefangener – seines Zeichens Orgelbauer aus Bonn – machte den Vorschlag, eine Orgel zu bauen. Unter der fachkundigen Leitung des Bonner Orgelbauers wurden Pläne gezeichnet. Aus metallenen Vorratsbehältern und brauchbaren Holzbohlen wurden Orgelpfeifen hergestellt, ein Blasebalg mit Handantrieb und dem erforderlichen Luftkanalsystem konstruiert und gebaut. Die komplizierte Tastatur entstand aus hartem Teakholz. Die abwartend interessierten amerikanischen Wächter staunten nicht schlecht, als die Orgel von Woche zu Woche immer mehr Gestalt annahm. Jetzt galt es, das Werk bis Weihnachten zu vollenden.

Die Orgel wurde tatsächlich zum Erstaunen der Amerikaner im Dezember fertig. Nach einer weiteren Woche mit intensiven Intonierungen freuten wir uns riesig auf die Einweihung, die am Heiligabend in einer Weihnachtsfeier stattfinden sollte.

Und einen Organisten hatten wir auch: Mitgefangener Eigelshoven (früher Kantor an Herz-Jesu Rheydt-Pongs) spielte – wie auch der Orgelbauer – auf unserem Instrument. Eigelshoven stellte – von der schönen Orgel beflügelt – einen Chor auf, einen „Gefangenenchor“, und probte mit uns Weihnachtslieder.

Die Spuren unserer intensiven Arbeit in der Remise beseitigt, und durch eine schöne weihnachtliche Dekoration wurde der Raum in einen würdigen und festlichen Saal verwandelt. Die gesamte amerikanische Wachmannschaft erhielt eine Einladung zu unserer Weihnachtsfeier.

Dann kam der große Moment: Wir feierten gemeinsam mit allen Lagerinsassen, dem gesamten amerikanische Wachpersonal, unserem Chor und vor allem mit unserer Orgel Weihnachten 1945.

Es war seit 1938 das erste Weihnachtsfest im Frieden, ein Heiligabend ohne Bomben, Granaten und Gewehrfeuer. Und als wir das Lied „Stille Nacht – Heilige Nacht“ zu den Klängen unserer Orgel gemeinsam sangen, schämten wir uns unserer Tränen nicht.

Für uns war dieses Weihnachten ein kleines Wunder.“

Foto: kleine Kapelle in Mönchengladbach-Hardt

Autor:

Birgit Schild aus Düsseldorf

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

Folgen Sie diesem Profil als Erste/r

3 Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.