Ach, du liebe Zeit!

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Zeit hat man oder auch nicht, man bekommt sie geschenkt oder man muss sie sich einfach nehmen.

Es war ein sonniger Freitagmittag, der Himmel war blau, und sie nahmen das nicht wahr, all die vielen Menschen um uns herum, die hektisch in alle Richtungen liefen.

Mein damals 81-jähriger Vater und ich saßen nebeneinander auf einer Bank mitten in der Fußgängerzone von Erkelenz, direkt neben uns spielte ein älterer Mann seine Lieder auf dem Akkordeon. Wir waren der ruhende Pol in einem Ameisenhaufen. Einen Arzttermin hatten wir wahrgenommen und ruhten uns auf dem Weg zum Parkplatz ein wenig aus. „Wo gehen die eigentlich alle hin?“ fragte mein Vater und ich sagte ihm, sie hätten Mittagspause, müssten auf die Schnelle etwas essen, machten Besorgungen fürs bevor stehende Wochenende und gäben das Geld aus, das sie soeben durch ihre Arbeit verdient hätten. Mein Vater schüttelte den Kopf und wir saßen schweigend nebeneinander und schauten uns die Ameisen an.

Ich lauschte der Musik des Akkordeonspielers und einige ältere Menschen und Mütter von kleinen Kindern warfen eine Münze in seinen Plastikbecher. Ich hatte mir einen Tag frei genommen, wir hatten nichts anderes mehr vor und wir hatten die Zeit des Lebens!

Wie oft hören wir von unseren Mitmenschen „ich habe keine Zeit“ oder „ich muss noch dies und jenes tun“. Wenn die Kolleginnen das Büro verlassen, müssen sie noch einkaufen, kochen, Fenster putzen und die Betten überziehen. Gestern hörte ich: „Wissen Sie, wie oft ich in den vergangenen Wochen den Balkon geschrubbt habe, um den gelben Staub weg zu bekommen?“ Bei mir hat das der Regen der letzten Tage erledigt. Dafür bin ich ihm dankbar.

Sicherlich gibt es die eine oder andere Pflicht, der man sich nicht entziehen kann. Wir haben Jobs, wir haben Kinder, die zur Schule müssen. Da muss man bestimmte Regeln und Pflichten einhalten. Das geht nicht anders und ist auch gut so.

Aber müssen wir uns ständig selbst unter Druck setzen? Müssen wir von einem Ereignis zum anderen jagen? Muss die Zahnpastatube wirklich immer ordnungsgemäß ausgedrückt sein? Ist Staub auf dem Wohnzimmerschrank tödlich?

Sollten wir uns nicht lieber mal fragen, wer eigentlich neben uns wohnt oder warum der Kollege in letzter Zeit so still ist? Ich will nicht mehr wissen, mit welchem Putzmittel ich mein Cerankochfeld am besten sauber kriege oder wie viele Programme eine wirklich gute Waschmaschine haben muss.

Ich will wissen wer ich bin und wo ich eigentlich hin will. Und dabei hilft mir nicht der Meister Proper. Aber vielleicht die Nachbarin von gegenüber oder der Akkordeonspieler in der Fußgängerzone oder ein gutes Theaterstück und bestimmt auch ich mir selbst.

Kürzlich las ich einen „Spruch aus China“: Die Arbeit läuft dir nicht davon, wenn du deinem Kind einen Regenbogen zeigst. Aber der Regenbogen wartet nicht, bis du mit der Arbeit fertig bist.“

Autor:

Birgit Schild aus Düsseldorf

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