Kein Kampf gegen den Krebs – nur ihren bleibenden Weg etwas mitgegangen

Vor über zehn Jahren lernte ich eine alte Dame in einer „Seniorenresidenz“ kennen. Es ging ihr gut, sie freute sich über all das was sie hatte, wie sie versorgt wurde und auch über den Blick in den Park. Das Gehen fiel ihr allerdings schon mächtig schwer.

Nachdem ich ging, dachte ich bei mir: Sie besuchen wird nicht leicht und nicht oft möglich sein. So schrieb ich ihr.
Der erste Brief wurde eine Geschichte drüber, wie wir gemeinsam durch den Park gingen, nachdem ich sie aus ihrem Residenz-Zuhause abgeholt hatte. Ich beschrieb, was wir sahen und in Harmonie gleichzeitig genossen – ob es Bäume oder ein unbekümmertes Eichhörnchen waren.
Diese Geschichte war erfunden. Doch durch sie wollte ich mit der älteren Dame wenigstens gedanklich spazieren gehen.

Beim nächsten Besuch legte sie ihre Hand auf meine, drückte sie und sah ich in ihren Augen Dank.
Sie wollte so gerne mal in das Café, von dem andere ihr erzählt hatten. So fuhr ich sie hin, hatte einen kleinen Blumenstrauß auf unseren kleinen Tisch stellen lassen, der sich von denen auf anderen Tischen schön abhob. Wir aßen langsam und voll genießend. Sie lebte förmlich auf.
Da hörte ich von ihr: "Ich habe Krebs."
Der Schreck einerseits und ihre Selbstverständlichkeit sowie bewundernswürdige Fröhlichkeit brachten mich nur kurz durcheinander. „Na und?!“ brachte ich nur heraus.
Wir ließen unsere Tagesplanung und nicht dadurch verändern.

Noch zweimal schrieb ich ihr einen Brief mit jeweils einer weiteren erdachten Geschichte, in der wir etwas gemeinsam unternahmen, in der wir im Bewusstsein ihres zu Ende gehenden Lebens diesem noch viel abrangen. (Dass und wie ich sie damit unterstützte ließ sich mich dankend wissen.)

Als das Lebensende anklopfte, fuhr ich zu ihr und schenkte eine Tasse mit „Gotha“ in einer Aufschrift. Mit Tränen in den Augen dankte sie mir aber sagte, dass ich sie doch wieder mitnehmen solle, weil sie diese doch kaum noch nutzen könne.
Ich beharrte darauf, dass diese Tasse bei ihr bleibe, weil ich durch diese gerade in ihren letzten Tagen bei ihr sein möchte.
Ihre Augen strahlten mich an, ihre Hand hielt die meine fest und ließ erst locker mit den Worten, dass ihre Kräfte wieder sinken und die Schmerzen stärker würden. Ich möge bitte gehen und die Tasse ins Fensterbrett stellen!
(So durfte ich doch symbolisch bleiben, würde die Tasse immer sagen, dass wir mit ihr gemeinsam auch die schlimmen Stunden durchsethen werden, bis der Tod dies nicht mehr zulassen würde.)

2001 starb sie – ich nehme sie seitdem in meinen Gedanken auch heute noch mit.

Warum schreibe ich dies?
Weil ich zeigen möchte, dass man beim sichtbaren Lebensende diesen Weg bewusst begleiten kann – selbst, wenn man nicht immer gegenwärtig ist.

Autor:

Uwe Zerbst (Gotha/Thüringen) aus Bochum

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