BUCHTIPP DER WOCHE: Rien ne va plus

Rainald Goetz: Johann Holtrop. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 343 Seiten, 19,90 Euro

Rainald Goetz war immer so ein klein wenig das „enfant terrible“ der deutschen Literaturszene. Das Image hat er selbst mitgroßer Ausdauer gepflegt. So blieb das Bild des sich auf der Klagenfurter Literaturbühne vor laufenden TV-Kameras mit einer Rasierklinge selbst in die Stirn schneidenden jungen Mannes dauerpräsent.

Doch plötzlich hat sich der inzwischen 58-jährige Autor sogar mit dem einst verhassten Literaturbetrieb arrangiert. „Es ist gut geworden und riecht sogar gut.“ Mit diesen Worten übergab er im August in Berlin persönlich druckfrische Exemplare an handverlesene Kritiker. Das passte nun überhaupt nicht zum bisherigen Goetzschen Rebellen-Habitus.
Zwischen den Buchdeckeln hat sich allerdings nicht allzu viel getan. Mit Hammer und Meißel scheint er seine Sätze zu bearbeiten, Glacéhandschuhe sind ihm immer noch fremd. Rainald Goetz erzählt vom Aufstieg und Fall eines Top-Managers namens Johann Holtrop, der vor der Jahrtausendwende in den Olymp des Kapitalismus eingezogen ist und für den ziemlich offensichtlich der einstige Bertelsmann- und Arcandorchef Thomas Middelhoff Pate gestanden hat. Jener Holtrop ist ein Aufsteiger par excellence, ein leicht exaltierter Machtmensch mit großer Affinität zur Selbstinszenierung. Er ist Chef über einen 80000-köpfigen Mitarbeiterstab beim „Global Player“ Assperg und steht weltweit für eine jährliche Bilanzsumme von 15 Milliarden Euro in der Verantwortung.
Goetz rechnet mit den teilweise perfiden Methoden des Kapitalismus gnadenlos ab. Vor allem Holtrops Wegbegleiter erhalten alle eine Art Charakterstempel von ihm verpasst. Ein Vorstandskollege ist ein „unüberbietbares Nulligkeitsmaximum“, der alte Konzernpatriarch Assperg (wer denkt da nicht sofort an Bertelsmann-„Kopf“ Reinhard Mohn?) ist von „untopbarer Exzessspießigkeit“ und dessen Ehefrau Kate „in einem sadistischen Greisenkörper gefangen.“
Zu Beginn der Handlung bewegen wir uns im Jahr 1998, die New Economy boomt, Holtrop bastelt an einer Neuorientierung des Unternehmens. Drei Jahre später (die Wetter-Allegorie passt vorzüglich) ist die Börsen-Welt aus den Fugen geraten, Holtrop lässt sich bei strömendem Regen in die ostdeutsche Dependance chauffieren, um den dortigen Chef zu feuern. Sein eigener Absturz hat (zunächst von ihm unbemerkt) schon längst begonnen, als sich Holtrop noch einmal als paradigmatischer Zyniker inszeniert. „Einer weniger“, bemerkt er lapidar über den gefeuerten Regionalchef („zu alt, mental erschöpft“), der sich wenig später das Leben nahm.
Holtrop selbst wird am Ende des Romans von Autor Rainald Goetz aus der Vorstandsetage des Assperg-Konzerns geradewegs in die Reha-Klinik geschickt, wo er sich wegen seiner Psychopharmaka-Abhängigkeit therapieren lassen will – ausgestattet mit einer Abfindung von 40 Millionen Euro. „Rien ne va plus“, möchte man ihm nachrufen.
Rainald Goetz’ Roman mag „gut riechen“, wie er es auf seinem PR-Termin behauptet hat, aber ein wirklich guter Roman ist ihm dennoch nicht gelungen. Hier wird zwar mit großer Leidenschaft der Wachstumswahnsinn, die Größer-schneller-höher-weiter-Mentalität und die Absurdität dieses Gigantismus’ entlarvt, aber brauchten wir für diese (wahrlich nicht neue) Erkenntnis einen Roman im Jahr 2012?
Wenn Rainald Goetz unentwegt als kommentierender allwissender Erzähler ins Geschehen eingreift, wirkt dies posenhaft, seine Entrüstung und sein Zorn haben nur noch Secondhand-Qualität, seine Protest-Rhetorik kommt ziemlich angestaubt daher, denn all das haben wir (leicht modifiziert) in „Irre“ (1983) und „Kontrolliert“ (1988) vor endlos langer Zeit schon einmal im Goetz-Duktus gelesen.
Am Ende ist man gar ein wenig ratlos, bleibt mit total ambivalenten Gefühlen zurück. Goetz hat zwar den Kapitalismus als Holtrops prägenden ideologischen Überbau entschieden abgelehnt, doch wie hält er es tatsächlich mit seinem Protagonisten? Steckt nicht jede Menge Rainald Goetz auch in Holtrop? Die Kreativität, die Visionen, sein Durchsetzungsvermögen, ja sogar sein Hang zum Zynismus. Ein Verlierer mit Format?
Am Ende lässt sich aber dieser dargestellte Irrsinn auch ganz schlicht mit Sartres berühmtem Titel „Les jeux sont faits“ (dt.: „Das Spiel ist aus“) bilanzieren.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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