Das Wunder der kleinen Spieluhr aus der Heimat zum Weihnachtsfest
Lange ist er nun her, der Zweite Weltkrieg. Doch immer noch gibt es Erlebnisse die von denjenigen, die ihn mitgemacht haben, mitgeteilt werden. Die nachfolgende Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit, die der Vater einer Bekannten des Chronisten, Walter Spohr, genauso erlebt und zu Papier gebracht hat.
Von Helmut Heckmann
„Vor uns auf dem Tisch, inmitten des Adventskranzes, steht die Spieluhr. Die letzten Töne ihres Liedes „Stille Nach, heilige Nacht“ verklingen im Raum. Auf ihr flackert eine Kerze. Und in ihrem Schein marschieren sechs kleine Zwerge immer im Kreis herum, und ihre Schatten marschieren mit. In mir wird die Erinnerung wach. Ich beginne zu vergessen, wo ich bin und fühle mich zurückversetzt in die schweren Jahre der Gefangenschaft“.
Wir schreiben das Jahr 1954. Es ist Dezember, die Abende sind lang. Wir, eine Gruppe deutscher Landser in russischer Kriegsgefangenschaft, denken mehr als sonst an zu Hause. Die Weihnachtszeit naht. Wir werden wieder nicht daheim sein. Ja, der Gedanke daran macht das Herz schwer. Neun Jahre sind um: Warum so lange? Oh, lieber Gott, hilf uns doch, mach‘ uns doch frei.
Langsam treffen die Weihnachtspakete ein. Ihr daheim wisst, dass man rechtzeitig daran denken muss. Weit ist der Weg bis sie in unsere Hände kommen, bis uns Eure Gaben ein wenig versöhnen mit diesem Schicksal. Ich komme heim von der Arbeit und auf mich wartet ein Paket meiner Frau. Doch was steht da, „eine Spieluhr?“. Ist es denn möglich? Doch schon meldet sich bei uns die Frage, werden sie die Uhr ausgeben? Voll Erwartung stehe ich am Schalter. Da ist sie, ach, das ist schön, aber schon, ohne dass ich sie in die Hand bekomme, verschwindet sie wieder. „Darf ich denn nicht eine Blick darauf tun?“ frage ich. Der Sergeant will schon, aber zuvor sieht er schnell noch einmal zum aufsichtsführenden Offizier hinüber, und dann sehe ich etwas glitzern, kleine Figuren, und wie eine Erscheinung ist es wieder verschwunden.
Am nächsten Tag schreibe ich einen Rapport. Er wird abgelehnt. Ich wiederhole ihn. Diesmal wird mir mit Karzer gedroht. Gewiss, es könnte eine Höllenmaschine eingebaut sein. Traurig finden sich meine Gedanken damit ab. Ihr daheim habt mir eine große Freude machen wollen, aber wie so vieles in diesem Land, es geht eben nicht.
Inzwischen ist dritter Advent. Ich muss zur Schreibstube kommen. Ich ziehe mich warm an. Wer weiß, vielleicht muss ich die Nacht im Bunker verbringen. Schon zu oft habe ich nach der Spieluhr gefragt. Doch eine große Überraschung bietet sich mir dar. Ein russischer Leutnant steht am Tisch und vor ihm dreht sich meine Spieluhr. Er lässt sie noch ein paar Mal spielen und freut sich wie ein Kind. Dann gibt er sie mir, ich nehme sie unter dem Arm und eile zu meiner Baracke.
Unterwegs aber überlege ich mir etwas Besonderes. Keiner darf sie zunächst sehen. Nur Wolfgang, mein bester Freund, wird ins Geheimnis gezogen. Wenn heute Abend alles im Bett liegt, wenn das Licht verlöscht, dann ...!
Wir beide können es kaum erwarten. Jeder liegt wie immer auf seinem Bett und denkt, denkt immer wieder den einen Gedanken: „Wäre ich daheim!“ Und plötzlich ertönt im Dunkel der Gefangenenstube, als käme es aus dem Himmel: „Stille Nacht, heilige Nacht.“ Ich kann es nicht sagen, Worte können es nicht ausdrücken, was jene Klänge erweckten. Plötzlich ist es ganz hell! Spieluhr, du sendest mir die Herzen der Meinen und sendest sie allen, die hier mit mir das gleiche Schicksal tragen. In ihr wird unser Deutschland, die liebe, ferne Heimat so ganz wach, ganz lebendig.
Jeden Abend spielt nun die Uhr. Jeder hat sich seine Zwerge ausgesucht. Einer trägt den Tannenbaum, die Axt geschultert, die Musiker halten Cello und Schifferklavier in den Händen, der Trompeter bläst kräftig ins Horn, ein weiterer hält die Noten, und der letzte schleppt schwer an seinen Paketen. Es sind so richtige liebe Zwerge, und ihre Schatten spielen lustig auf dem Tisch.
Ich muss nun von Baracke zu Baracke ziehen, alle haben von dem Wunder gehört und lassen nicht locker, bis sie es selbst vernommen haben. Am Weihnachtsabend aber gehe ich in die Krankenstuben, und hier erweckt sie besondere Freude. Ich selbst aber kann es nicht genug hören, dieses immer und immer wieder hervorgezauberte schönste deutsche Weihnachtslied.
Vor mir aber steht jedes Mal meine Frau, meine beiden Mädel, meine Eltern, meine Lieben. Noch nie haben sie mich vorher so glücklich durch die Weihnachtszeit geführt wie in diesem Jahr.
Das Fest ist vergangen. Eingepackt steht das Kistchen auf einem Brett, die Zwerge schlafen. Es wird Frühling, ein Sommer kommt, und dann kommt jener Herbst, der unser Frühling wird. Wir fahren heim! Soll ich das Kistchen mitnehmen? Wird es die Grenze passieren? Doch mein Herz hängt daran. Es verschwindet im Koffer und reist noch einmal den gleichen Weg seiner Herfahrt, nur diesmal nach Westen.
Zu Hause packte es unsere Mutter fort, denn die Kinder sollen nichts davon wissen. Unter dem ersten Weihnachtsbaum, der dieses Mal heller strahlen wird als je zuvor, sollen wieder die ausgeruhten heimgekehrten Zwerge im Kreise marschieren. Welche eine Überraschung schenkt uns dann diese glücklichste, seligste Stunde! Klingt die „Stille Nacht“ nicht voller in die „Heilige Nacht“? Ganz gewiss, so war es: Ein Stück Heimat kam mit der Spieluhr zu uns ins ferne Land, in die Gefangenschaft. Ein Wunder der deutschen Weihnachtszeit hob unsere verzweifelten Herzen zum Himmel, und ihr Klang versetzte uns in unseren glitzernden heimatlichen Tannenwald, und in uns klangen die Glocken der heiligen Nacht.
Wenn ich dich jetzt sehe, du kleine Spieluhr, erinnerst du mich an die Kraft, die du mir in jenen Stunden der größten Not schenktest. Ihr kleinen Zwerge erzählt meiner Frau, erzählt meinen Kindern, wie sehr ich damals an sie dachte. Ihr seid meine Zeugen. Marschiert noch lange, viele Jahre im Kerzenschein.
Autor:Helmut Heckmann aus Uedem |
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