Mein Tagebuch in Russland und in Deutschland.

Mein Tagebuch in Deutschland ab dem 31.03.1991

Ade, mein Tagebuch, ade, mein Freund, ade meine Heimat…
Deutschland, ich grüße dich…

März 1991, Russland, Saratow
Beim Ausräumen der Sachen aus den Schränken habe ich sehr genau betrachtet, was ich nach Deutschland mitnehme und was nicht. Alles Alte, was ich meinte in Deutschland nicht gebrauchen zu können, habe ich auf einem Scheiterfeuer verbrannt. Das Persönliche konnte ich den Fremden hier und den Fremden dort nicht anvertrauen.
Ich zögere. Was mache ich bloß mit meiner Diplomarbeit zum Thema „Äquivalenz der Übersetzung der Redewendungen und Sprichwörter in „Was tun? Von Wladimir Lenin“? Wie viel Freude und Spaß ich beim Vergleichen des Gemeinsamen und Unterschiedlichen in der Bedeutung von russischen und deutschen Sprichwörtern und Redewendungen ich hatte! Diese Arbeit wurde mit der Note 5 „sehr gut“ (5 ist „sehr gut" in Russland) bewertet trotz, dass ich in der Schule her nicht die Beste war. Aber darum ging es im Moment nicht.
Können die Deutschen, die Kapitalisten, mit so einer Arbeit von einem Kommunisten Wladimir Lenin was anfangen? Kann ich sie dort gebrauchen?
Nein, die Arbeit, die ich 12 Jahre aufbewahrt hatte, landet ins Feuer.
Ach, du ungewisses Deutschland…
In meine Hände geriet mein Tagebuch, dass ich mit 12 Jahren in meinem Heimatdorf im weiten Kasachstan begonnen habe zu schreiben.
Ich blättere in meinem Tagebuch… Meine Träume, erste Erfahrungen, Freuden und Enttäuschungen. Ich lese darüber, dass ich mir wahnsinnig schön vorkam, als ich oben auf dem Speicher im Elternhaus heimlich die Schuhe mit hohen Absätzen anhatte und dazu noch ein langes Kleid trug. Alles war mir viel zu groß, aber es war wie im Traum, aus dem mich der Ruf meiner Mutter riss. Oft musste meine Mutter nach mir rufen. Wenn ich das Futter dem Vieh herausbringen sollte, habe ich schnell unter die Jacke ein Buch gesteckt und dort im Stall weiter gelesen, bis mich meine Mutter rief...

Ich lese in meinem Tagebuch…
Ich lese mein Liebesgedicht über den ersten süßen Kuss im blühenden Apfelgarten meiner Großmutter. „Wir küssen uns. Die blühenden Apfelbäume breiten einen zärtlichen und aufregenden Duft aus, der uns einlullt.“
Und weiter…
„Jetzt bin ich in Russland an der Wolga, wohin mein Mann seiner Mutter folgte und ich meinem Mann ebenfalls“.
......
Ich lese den letzen Eintrag:
„Heute bin ich 40 Jahre alt geworden“.

Mein Tagebuch landet ins Feuer.
WARUM? Vielleicht, weil ich niemanden es anvertrauen konnte oder wollte, weil das Tagebuch mein heimlicher Freund war, mit dem ich meine Freuden und traurige Geschichten teilte, bei dem ich bitterlich weinen konnte, wenn es die nächste Lebenskrise gab. Vielleicht weil meine Geschwister in Kasachstan lebten und weit weg von hier, Saratow waren. Ich weiß es nicht. Vielleicht nahm ich Abschied…
Am 3. April 1991 auf dem Weg nach Deutschland erkannte ich, dass das mit meinem Tagebuch ein Fehler war. Ach nein, ich wusste es schon, bevor ich es ins Feuer warf.
Jetzt schreibe ich wieder ein Tagebuch, dass ich mit 40 Jahren in Deutschland begonnen habe.
Ich hoffe, es wird mein Freund werden.

Autor:

Julia Weber aus Kleve

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