Schulstory (3): Die Klassensprecherin
Die kleine Erika fühlte sich schrecklich. Scheinbar riesig lastete die Verantwortung auf ihren schmalen Schultern. So gerne sie seit ihrer überraschenden Wahl zu Beginn des Schuljahrs auch ihr neues Amt bekleidete. Nein, dass sie einmal eine angesehene Klassensprecherin sein würde, damit hätte sie nicht im Traum gerechnet. Aber ohne dass ihr das selbst groß bewusst war, hatte sich in den letzten Jahren aus einem schüchternen Mäuschen eine gute und sehr beliebte Grundschülerin entwickelt.
Doch heute war wieder so ein Tag, da hätte sie liebend gern auf Ruhm und Ehr verzichtet. Denn ihre Klassenlehrerin, Frau Sperling, hatte einen Termin beim Rektor, wie sie der Klasse gleich zu Beginn der Unterrichtsstunde verkündete. Nicht den ersten in diesem Schuljahr, und Erika wusste genau, was auf sie zukam. Im Sachkundebuch auf Seite 41 waren die Aufgaben 1 bis 3 zu lösen. Und wer war dafür verantwortlich, dass dies in vollkommener Ruhe und ohne beim Nachbarn abzuschreiben stattfand? Genau, nämlich sie, die kaum zehnjährige Klassensprecherin!
Es war Brauch, die Namen derjenigen an die große Tafel zu schreiben, die dagegen verstießen. Diese Schüler mussten in der darauffolgenden Woche zum Förderunterricht, also zwei verhasste Extrastunden, während die anderen jeweils eine Stunde länger schlafen konnten. Und bei der letzten Aufsicht hatte sich der wutschnaubende und leider gar nicht so unberechtigte Ausbruch von Klassenkamerad Stefan tief in ihr Gedächtnis und in ihr Gewissen gebrannt: „Nie schreibst Du Deine Freunde an die Tafel, die bekommen immer nur eine Verwarnung. Das ist so ungerecht!“
Seitdem nagte dieser Vorwurf an ihr, verfolgte sie sogar bis in ihre Träume. Was sollte sie beim nächsten Mal nur tun? Was, wenn ihre Freundinnen ihr darauf die Freundschaft kündigten? Nun war es also wieder soweit. Frau Sperling verließ die Klasse und ließ eine schweißgebadete Erika an der Tafel zurück. Ja, sie hatte große Angst. Und es kam genauso, wie sie es befürchtet hatte. Nachdem sie Klassenclown Sascha und Zappelphilipp Tom verwarnt und an die Tafel geschrieben hatte, bahnte sich ein Zickenkrieg zwischen ihren beiden Freundinnen Steffi und Manuela an.
„Manuela, Steffi, bitte hört auf und seid ruhig“, redete sie den beiden ins Gewissen. Doch schon kurze Zeit später flogen Papierkügelchen zwischen den verfeindeten Parteien durch die Luft. Und Stefan schaute sie lange und vorwurfsvoll an. Erika biss die Zähne zusammen und schrieb die Mädchen auf. Ungläubiges Entsetzen bei den beiden: „Du bist ja so gemein!“ ertönte es nun unisono von den beiden wie durch ein Wunder wieder versöhnten Streithühnern. „Mit Dir wollen wir nichts mehr zu tun haben!“
Kurze Zeit später kam Frau Sperling zurück und Erika wankte wie betäubt zu ihrem Platz. Sie hatte es gewusst, nun war alles aus - oder? Doch plötzlich hatte sie eine Idee. Sie stand noch einmal auf und ging zur Tafel. „Was ist los, Erika?“ fragte die Lehrerin überrascht. „Ich hab noch jemanden vergessen“, entgegnete Erika gefasst - und schrieb ihren eigenen Namen an die Tafel. Denn wenn sie mit den Freundinnen zusammen die Strafe absaß, so hoffte sie, würden ihr diese vielleicht auch verzeihen? „Erika, nach der Stunde erwarte ich eine Erklärung von Dir!“
Diese Erklärung hat Frau Sperling auch bekommen. Und etwas dazugelernt. Der Klasse schon am nächsten Tag einen Vortrag über Gleichbehandlung und Verantwortung gehalten. Seitdem hat sie auch ihre Klassensprecher nie mehr damit gequält, ihre Mitschüler zu „verpetzen“. Und die beiden Förderstunden mit kleinen Spielen und Basteleien zum ersten Mal so ansprechend gestaltet, dass alle, die nicht daran teilgenommen haben, ganz neidisch wurden.
Autor:Christiane Bienemann aus Kleve |
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