"Nur wer die Vergangenheit kennt, kann sie auch erkennen"

Rabbi Mendel Levine betete das jüdische Totengebet.
  • Rabbi Mendel Levine betete das jüdische Totengebet.
  • hochgeladen von Annette Henseler

Vor 73 Jahren brannten in Deutschland die Synagogen und Bethäuser. Auch in Kleve. An diesen Tag, den 9. November, wurde in Kleve mit einer Gedenkveranstaltung auf dem Platz der ehemaligen Synagoge gedacht.
Bürgermeister Theo Brauer: „Wir erinnern uns heute an eine der dunkelsten Stunden unserer Geschichte. Wir blicken zurück - auf das Novemberpogrom als sichtbares Zeichen für den Zivilisationseinbruch, der im Holocaust endete.“ Die jüdischen Bürger hätten einen Alptraum erlebt. Doch Gedenken lenke den Blick nicht nur in die Vergangenheit, viel mehr mache es die Vergangenheit sichtbar und greifbar. „Wir wollen der Verpflichtung nachspüren, die sich für uns heute daraus ergibt“, so Brauer. Er stellte die Frage: „Wie kann man junge Menschen ansprechen?“ Zeitzeugen würden Jüngere meist stark berühren, aber auch Bücher und Filme zeichneten das Schicksal Einzelner nach. „Nur wer die Vergangenheit kennt, kann sie auch erkennen, erkennt, wie gefährdet Demokratie ist.“ Demokratie gebe es nicht zum Nulltarif, man müsse schon etwas dafür tun. Trauer und Scham über das Vergangene und der Wille, die Werte von heute hochzuhalten waren für Brauer zentrale Punkte, die Vergangenheit und Gegenwart verbinden.
Gila van de Braak erzählte in bewegenden Worten vom Schicksal ihre jüdischen Großvaters, Alfred Ludwig Wieruszowski. Gila van de Braak lebte zunächst in Palästina - 1985 kam sie nach Kleve. „Ich bin heute frei genug, um von meinem Großvater zu erzählen, der 1945 im jüdischen Kranenhaus in Berlin einen ganz normalen Tod gestorben ist. Dieses jüdische Krankenhaus war - wie Theresienstadt - eine Vorzeigeanstalt der Nazis.“ Den normalen Tod des Großvaters als Glück zu bezeichnen, sei Hohn, so van de Braak. „Er wurde 1857 in Döblitz geboren, studierte nach der Reifeprüfung Jura in Leipzig. Mit 63 Jahren wurde er ins Amt des Senatspräsidenten am Kölner Oberlandesgericht berufen. Er war mit Jenny Landsberg verheiratet. Sie war jüdischen Glaubens. Sie bekamen vier Töchter, die jüngste, Ruth, wurde in Israel meine Mutter. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete er erneut. Das Ehepaar gründete das ostasiatische Museum in Köln.“ Der Großvater habe sich ganz als deutscher Bürger jüdischer Herkunft verstanden. Er sei ein Sohn der Klassik gewesen, hier hätte sich ihm der Weg in die Freiheit des Geistes eröffnet. An der Kölner Universität war Alfred Wieruszowski zudem als Professor tätig. „Noch 1933 gratulierte ihm der Dekan zu seinem 75. Geburtstag“, so Gila van de Braak. Im April 1933 habe er dann einen Anschlag am Kölner Universitätsgebäude gelesen, der sein Leben mit einem Schlag völlig auf den Kopf stellte: „Jeder Jude, der Deutsch spricht, lügt“. Er trat sofort von seinem Amt zurück, es begannen zwölf Jahre der Demütigung. 1934 wurde sein Name aus dem Personenverzeichnis der Universität getilgt, 1937 erging das Verbot an seine nicht jüdische Ehefrau, das ostasiatische Museum, das von ihr gegründet und geleitet wurde, zu betreten. Die Ausgrenzung wurde immer größer. Ab 1941 musste der Judenstern getragen werden, das Vermögen wurde eingezogen. Es folgte die endgültige Trennung von den Töchtern. „Meine Mutter erzählte vom Abschied“, sagte Gila van de Braak sichtlich berührt, „mein Großvater saß im Bahnhof und schüttelte die Hände voller Verzweiflung, bis der Zug losfuhr.“
Ein großer Trost seien deutsche Freunde und die Hausangestellte Linda gewesen. Linda musste das Kölner Haus verlassen, ging zurück nach Dresden. Dem jüdischen Ehepaar blieb nur das Schlafzimmer und zwei gepackte Koffer. Eine kleine Gesetzeslücke ermöglichte die Flucht nach Dresden. „Dort konnten sie mit Lindas Hilfe untertauchen“, so van de Braak. Alfred Wieruszowski erlitt einen völligen, physischen Zusammenbruch. Am 4. Januar 1945 wurde er ins jüdische Krankenhaus gebracht, Hier starb er. Seine Frau Frieda starb nur ein Jahr später.
„Auschwitz ist er entkommen, aber er war ein gebrochener Mann. Die Treue Lindas hat ihm aber gezeigt, was es heißt, ein Mensch zu sein und ein Mensch zu bleiben.“
Den jüdischen Dichter Erich Fried hatten Schülerinnen und Schüler des Berufskollegs gemeinsam mit Lehrerin Hedwig Meyer-Wilmes in den Mittelpunkt gestellt - mit zwei Gedichten erinnerten sie daran, dass das Leben sowohl Trauer und Verzweiflung, aber auch Glück bereithält.
Einen jüdischen Tanz, den Fuchstanz, hatten Kinder der Lutherschule einstudiert. Die musikalische Gestaltung der Gedenkfeier hatte der Chor der Christus-König-Schule unter Leitung von Johannes Feldmann übernommen. Das jüdische Totengebet sprach Rabbi Mendel Levine.

Autor:

Annette Henseler aus Kleve

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