Lebensweisheit: „Jeder hat seins mitgemacht“
(von Dino Kosjak)
„Über Sie und Frau Lange müsste man eigentlich mal was schreiben.“ Zehn Jahre ist es her, dass Gertrud Seidel von ihrem Arzt diesen Rat bekam. Mittlerweile sind Gertrud Seidel und Ilse Lange 84 Jahre alt. Und sie verbindet eine lebenslange Freundschaft.
Familienfotos bedecken die Wände des Wohnzimmers. „Meinem Mann war das immer wichtig“, sagt Gertrud Seidel, und ihr Blick streicht kurz über die Zimmerwände. „Schöne Aufnahmen. Sehr glücklich alle.“
Kater Johnny kommt herein, er hat wohl die Fruchtschnitten gerochen. Die Vorderpfoten auf ein Knie von Ilse Lange gestützt späht er hoch zum Tisch. „Na komm, setz dich her zu mir“, wird er ermutigt. „Zuhause habe ich selbst Katzen“, sagt Ilse Lange lächelnd, „Hunde leider nicht mehr. Dafür bin ich zu alt.“
Seit über 60 Jahren besuchen die beiden Frauen einander regelmäßig. Dem voraus gingen eine vom Krieg gezeichnete Kindheit und Jugend und der Verlust der Heimat.
Ilse Lange und Gertrud Seidel stammen aus Alt und Neu Tepperbuden, niederschlesischen Dörfern im heutigen Polen, rund 120 Kilometer von Frankfurt (Oder) gelegen. 1945, kaum siebzehn Jahre alt, schlossen sie sich mit ihren Familien den Flüchtenden Richtung Westen an. Sie waren auf der Hut vor den nahenden Siegermächten und den frustrierten Verlierern. „Auf unseren verbrannten Höfen lagen auch russische Soldaten“, erinnert sich Gertrud Seidel, „da hatte wohl ein Nazi-Trupp alles abgefackelt.“
Gertrud Seidel kam zunächst bei Verwandten unter und fand nach und nach in ihr neues Leben. Da war eine neue Sprache zu lernen. „Schlesisches Platt half ja nicht weiter“, lacht sie.
Dem Misstrauen der Menschen war zu begegnen: „In Sachsen-Anhalt fragten die Menschen uns: ‚Seid ihr Nazis?‘“, erzählt sie in verständnislosem Ton. Und es wartete harte Arbeit. „Im Felde war immer was zu tun.“
1950 kam sie nach Hattingen, fand Arbeit in der Metzgerei Rosenkranz und schließlich in einem Süßwarenladen am Obermarkt. Ihren aus Breslau stammenden Mann lernte sie in Hattingen kennen, er fand Arbeit bei Orenstein & Koppel. Sie bekamen einen Sohn und eine Tochter. Und auch Gertrud Seidels Geschwister ließen sich in Hattingen nieder.
Ilse Langes Weg führte zunächst durch Brandenburg. Mit sorgenvollem Blick erinnert sie sich: „Meine Mutter starb damals. Einen Tag vor meinem 18. Geburtstag.“
Bald darauf gelangte sie in das niedersächsische Wiebrechtshausen und 1960 zog sie in das nahe gelegene Nörten-Hardenberg. Bis zu ihrem 78. Lebensjahr hat sie hier in der Mariensteiner Klosterkirche gearbeitet. Dann habe es gereicht: „Der neue Pastor war nicht meins“, sagt sie kopfschüttelnd. Ilse Langes Mann arbeitete als Traktorfahrer. Sie bekamen fünf Söhne.
Schon bald nach ihrer Flucht gelang es den beiden Frauen, einander ausfindig zu machen. Von da an schrieben sie sich Briefe. Ein erstes Treffen folgte 1952. Seitdem ist kein Jahr vergangen, in dem sie sich nicht besucht haben, sei es zu Geburtstagen, Taufen oder Hochzeiten. Oder Beerdigungen. 2004 verstarb Gertrud Seidels Mann. „Für meine Kinder war er der Onkel“, sagt Ilse Lange, „so wie die Gertrud ihre Tante ist“.
Ilse Langes Mann verstarb 2010. „Wir waren 62 Jahre verheiratet“, sagt sie mit ruhiger Stimme. „Es war nicht leicht, schon gar nicht mit den Kindern. Aber wir haben uns ehrlich durchgeschlagen.“
„Unsere Kindheit war ja wirklich nicht schön“, fährt Ilse Lange fort, „mir haben so manches Mal die Knochen gezittert“. Zum Beispiel wegen betrunkener russischer Soldaten. „Die haben keinen Halt gemacht, auch nicht vor den Alten im Dorf. Eine Hochschwangere haben die auf dem Gewissen.“
Einmal musste sie kurzerhand in Unterwäsche fliehen. „Die haben sich auf einmal im Dorf gekloppt. Also habe ich über den Zaun rübergemacht, bis die wieder weg waren.“ Oder der Zug russischer Soldaten bei Cottbus. „Da haben wir zu Boden geschaut und sind weitergegangen. Immer mit der Angst: Was, wenn die uns einfach in den Graben stellen?“
Gertrud Seidel hat ruhig zugehört. Dann schaut sie zum Fenster hinaus, atmet tief und sucht wieder den Blick der Freundin: „Ja, jeder hat seins mitgemacht. Aber wir haben noch Glück gehabt.“ Ilse Lange nickt zustimmend: „Einmal hat uns ein Amerikaner einfach durch die Kontrolle gelassen, weil wir so viele Kinder waren. Das hätte der nicht machen müssen.“
Gertrud Seidel war 1978 zu Besuch in der alten Heimat. Noch heute leben dort Verwandte. „Landwirte“, sagt sie, „die hatten jetzt einen strengen Winter, unglaublich viel Schnee“. Ilse Lange war 1990 dort. „Es hat weh getan. Danach wollte ich nicht mehr hin.“
Gertrud Seidel grübelt ein wenig und freut sich schließlich über eine schöne Erinnerung: „Schwimmen, ich bin als Kind gerne von der Brücke ins Wasser gesprungen.“
Da schüttelt Ilse Lange ungläubig den Kopf: „Unsere ganze Familie ist am Fluss aufgewachsen, an der Faulen Obra. Aber schwimmen kann bei uns keiner“, lacht sie. „Dafür war nie die Zeit.“
Autor:Roland Römer aus Hattingen |
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