"Zwischen Himmel und Meer" ist der Titel einer umfangreichen Anthologie zur taiwanischen Literatur, herausgegeben von dem Sinologen und Kulturvermittler Thilo Diefenbach (Iudicum Verlag). Thilo Diefenbach stammt vom Niederrhein.
Der Band setzt mit Beispielen aus der mündlichen Überlieferung ein, d.h. mit Legenden, Märchen und Sagen der Ureinwohner, aber auch jenen der Einwanderer aus China ab dem 17. Jahrhundert. Schriftliches in Taiwan wies inhaltlich zunehmend eigene Züge auf, etwa in der Beschreibung der Landschaften und der Ureinwohner Taiwans.
Die Mehrsprachigkeit Taiwans ist auch im Schriftbild bemerkbar: sinitische Schriftzeichen, japanische Silbenalphabete und lateinische Buchstaben wurden parallel verwendet. Politische Zwangsmaßnahmen unter der japanischen Herrschaft (1895–1945) ebenso wie unter dem Kriegsrecht bis 1987 verhinderten lange Zeit eine freie Entwicklung der Literatur und auch der in Taiwan gebräuchlichen Sprachen. Erst seit dem Beginn der Demokratisierung in den späten 1980er Jahren können sich Literatur und Sprachen wieder frei entfalten.
Die 101 Beiträge in diesem Buch – Gedichte, Erzählungen, Essays – sind aus vier Sprachen übersetzt (Mandarin, klassisches Sinitisch, Japanisch, Taiwanesisch) und durchweg ausgiebig kommentiert. Es gewährt somit einen tiefen Einblick in die sprachliche und inhaltliche Vielfalt der taiwanischen Literaturen.
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2023 erhält Thilo Diefenbach für diesen Band den Johann‐Friedrich‐von‐Cotta‐Übersetzungspreis. Jury-Mitglied Verena Lueken schreibt:
"Zwischen Himmel und Meer ist eines der erstaunlichsten Bücher nicht nur dieses Jahres. Mehr als hundert Texte, aus mündlicher wie schriftlicher Überlieferung in den verschiedenen Sprachen, die in Taiwan gesprochen wurden und werden, sind in dieser einmaligen Sammlung enthalten. Thilo Diefenbach hat sie zusammengestellt und die Texte zum überwiegenden Teil auch übersetzt und kommentiert – eine veritable Pionierleistung.
Was wüssten wir ohne seine gewaltige Anstrengung von den verschiedenen Versionen der Legenden von der Frau, die sich erhängte, als sie sitzengelassen wurde, in der flüchtigen Gestalt eines Geistes aber zurückkehrte und geduldig auf den Augenblick der Rache wartete, wobei einem Sonnenschirm eine besondere Bedeutung zukam? Was von der Ironie eines Ch’en Ch’ien-wu in seinem Gedicht Verzeiht mir meine Dreistigkeit, gerichtet an Chiang-Kai-shek? Was wüssten wir überhaupt von den Literaturen Taiwans? Von der Pluralität der Formen und Genres?
Diefenbachs Anthologie versammelt Gedichte und Legenden, Essays, Erzählungen und Romanauszüge. Und zwar nicht nur auf Mandarin, wie die wenigen anderen deutschsprachigen Anthologien von Literatur aus Taiwan, die sich auf die Nachkriegszeit konzentrieren, sondern er übersetzt Texte aus mehreren Jahrhunderten aus dem Mandarin und klassischem Chinesisch, aus dem Taiwanischen und dem Japanischen. Und in dem wunderschön gestalteten Buch finden sich neben der lateinischen Umschrift von Titeln, Ortsnamen und Verfassern auch die originalen Schreibweisen – ein vorbildlicher Umgang mit den Texten, um die es geht.
Von Taiwan wissen wir vor allem, dass es sich nicht als „chinesisch“ im Sinn der Volksrepublik China identifiziert. Von Thilo Diefenbach lernen wir, was das in den Literaturen bis heute bedeutet. Sein Respekt vor der Widerständigkeit der Insel gegenüber dem Festland zeigt sich auch darin, dass er eine Umschrift benutzt, die ausdrücklich anders vorgeht als die in China favorisierte.
Es sind diese Superlative der kulturellen Vermittlungsleistung von Thilo Diefenbach und seinen Mitarbeiter:innen, die mit dem Cotta-Preis für Übersetzung ausgezeichnet werden."
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Thilo Diefenbach, geboren 1975 am Niederrhein, erwarb einen Magister in Sinologie und Germanistik an der Frankfurter Universität und promovierte in Köln. 2017 erschien seine erste taiwanische Anthologie Kriegsrecht, 2019 folgte mit Gedanken in Weiß ein Lyrikband mit übersetzten Gedichten von Cheng Chiung-ming. Diefenbach ist Mitarbeiter der Zeitschriften ASIEN und Hefte für ostasiatische Literatur. Er lebt in Berlin.
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