Das Christkind ist auch nur ein Kind - ein Märchen

10. Dezember 2011
Leegmeer, Emmerich am Rhein

Das Christkind bohrte missmutig mit dem dicken Zeh Löcher in den flusigen Rand der Wolke.
„Ist das langweilig! Keiner spielt mit mir. Jedes Jahr fangen sie früher an. Es ist doch erst Ende August, und was ist? Onkel Petrus hat beschlossen, dass alle Engel erst Kurse belegen müssen, bevor sie anfangen zu arbeiten. Technik und so. Wie hat er doch gesagt? High-Tech, glaub ich. Für all den modernen Kram, den die Kinder sich heutzutage wünschen. Und wer muss darunter leiden? Ich. Keiner hat mehr Zeit zum Spielen!"

Das Christkind war so sehr in seine traurigen Gedanken versunken, dass es gar nicht bemerkte, wie sich die Wolke, auf der es hockte, langsam auflöste. Flusen um Flusen purzelten durch das blaue Licht, gefroren auf ihrem langen Weg und deckten das Dorf Rauhe am Rande des Taunus mit weichem, weißem Schnee zu. Die Menschen dort unten blieben stehen und starrten erschrocken hoch. Überall blauer Sommerhimmel, nur direkt über ihnen herrschte dichtes Schneetreiben. Was mochte das wohl bedeuten?
Das Christkind merkte von alledem nichts. Es zerrte an seinen Flügeln. Sie waren schon wieder zu klein geworden. Sie zwickten und juckten. Ich darf nicht vergessen, Onkel Petrus Bescheid zu sagen, dass ich neue brauche. Wenn ich wieder im letzten Augenblick damit komme, kriegt er bestimmt einen Tobsuchtsanfall.

Bei dem Gedanken an das vorige Jahr, einen Tag vor Heilig Abend, als der bepackte Schlitten schon abfahrbereit stand, kicherte das Christkind los. Es hatte seine Flügel zwar rechtzeitig zur Überholung in die Werkstatt gebracht, aber erst im letzten Moment anprobiert. Und dann machte es gewaltig: Knack! und die filigranen Flügelchen mit der neuen Goldschicht darauf brachen mitten entzwei.

Onkel Petrus hatte so schrecklich wütend an seinem Bart gezerrt, dass das Christkind einfach lachen musste. Und das hatte ihn natürlich noch wütender gemacht. Aber was sollte es tun? Es konnte nicht aufhören zu lachen, immer lauter und lauter. Das war schon von jeher so, es musste einfach lachen, wenn andere schimpften. Es lachte, bis ihm die Tränen übers Gesicht liefen und Onkel Petrus Mundwinkel schließlich auch anfingen zu zucken. „Du Göre, du! Na, warte! Jetzt ist natürlich nix mehr mit Fliegen! Jetzt musst du auf dem Schlitten mitfahren. Hol dir warme Wintersachen, und dann ab mit dir. Santa sitzt schon ungeduldig auf dem Kutschbock. Lange wartet der bestimmt nicht mehr."

Und so war das Christkind im vorigen Jahr wie ein ganz gewöhnlicher Arbeitsengel zu den Menschen gekommen, dick vermummt und kaum zu erkennen. Hoffentlich hatten nicht zu viele Kinder durch die Schlüssellöcher geguckt. Sie mussten ja einen völlig falschen Eindruck vom Christkind bekommen haben. Und deshalb musste es unbedingt, am besten noch heute, dem Onkel Petrus Bescheid geben.
Das Christkind zerrte sich die Flügel ab, hüpfte hoch und prallte fast mit einem Test-Engel auf Schlittschuhen zusammen: „He, pass doch auf, kannst du die Dinger nicht im Stadion ausprobieren? Wieso schwirrst du hier herum?"
„Da sind die Jungs mit den Schlitten und Skiern. Da ist es proppenvoll. Aber - was hast du gemacht? Guck doch mal! Du hast es schneien lassen! Mitten im August! Mann, das gibt Ärger!"
Erschrocken schaute das Christkind nach unten. Tatsächlich, da wirbelten noch die letzten Flocken. Und da, ach du lieber Himmel! Ein ganzes Dorf war eingeschneit!
Mit roten Ohren rannte es, so schnell es konnte, durch die Wolkengassen, ließ sich nicht mal dazu verleiten, wie sonst eben noch einen Abstecher durch die Bäckerei zu machen, sondern rannte mit klopfendem Herzen durch bis zu dem gewaltigen Himmelstuhl, auf dem Petrus gerade ein Nickerchen machte. Sein langer, weißer Bart hing in einem ordentlichen Zopf über dem Arbeitskittel.

„Onkel!" Das Christkind zog an dem Fuß, der in klobigen Holzpantinen auf dem Boden stand. „Onkel! Wach auf! Ich muss dir was beichten!"
Langsam öffnete Petrus die Augen. „Du? Was hast du jetzt schon wieder angestellt?"
„Ich habe es schneien lassen. Aus Versehen. - Und, meine Flügel sind schon wieder zu klein."
„Schneien lassen? Im August?"
„Ja, aber nur ein bisschen, nur ein einziges, kleines Dorf ist weiß. Wirklich nur ein ganz klitzekleines."
„Du hattest wahrscheinlich mal wieder Langeweile, so wie ich dich kenne, oder?" Petrus zog das Christkind näher zu sich heran. „Langeweile bekommt dir nicht. Wir werden da mal was unternehmen müssen. Du brauchst eine Arbeit. Es reicht nicht, dass du Weihnachten so ein bisschen über die Erde fliegst und Geschenke austeilst. Ich muss mal überlegen..."
Das Christkind schaute mit bangen Augen.
„Was hältst du davon“, Petrus zwinkerte, „was hältst du davon, wenn du ab jetzt in der Bäckerei mitarbeitest? Da ist es immer mollig warm, und du hast keine Zeit mehr für Unfug, denn die anderen Engel werden dir schon auf die Finger gucken. Und wenn du richtig backen gelernt hast, dann..."
Er machte eine Pause und zog das aufgeregt zappelnde Christkind auf seine Knie, „dann, mein Fräulein, wirst du dir selber neue Flügel backen. Vielleicht - aus weißem Marzipanteig? Mit Goldüberzug aus Zuckerguss? Immer für ein Jahr. Immer neue, weil du ja noch wächst. Und hinterher kannst du sie vernaschen. Wenn sie denn noch in Ordnung sind, wenn du Weihnachten von der Erde wieder zurückkommst. Was hältst du von meiner Idee?"
„Juhu, mein liebster Onkel! Du bist doch der beste! Santa hätte mir bestimmt den Hosenboden versohlt. Ich in der Weihnachtsbäckerei!!!! Juhu!"

Und so kommt es, dass die Engel schon früh im Jahr anfangen müssen zu backen, weil das Christkind am liebsten alles weg nascht, und sie immer wieder von vorne anfangen müssen. Deshalb sehen die Menschen auf Erden schon früh im Herbst abends den roten Schein aus der himmlischen Backstube.“

Dieses Märchen ist ein Auszug aus meinem Buch 'Himbeerrote Knallbonbons'
© Foto: eigenes

Autor:

Christel Wismans aus Emmerich am Rhein

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