Dienstag (19. Januar) startet neues Beratungsangebot der Caritas Kreis Kleve
Was müssen Eltern wissen? Fragen an den Erziehungs- und Familienberater Holger Brauer
Emmerich. Holger Brauer (44) ist Sozialpädagoge und arbeitet als Erziehungs- und Familienberater beim Caritasverband Kleve. Jeden dritten Dienstag im Monat bietet er nun eine Mediensprechstunde im Familienbüro der Stadt Emmerich an. Ein Gespräch über Medienkompetenz. Ein Thema, das wohl alle Eltern irgendwie irgendwo irgendwann beschäftigt, von Julia Lörcks.
Herr Brauer, erzählen Sie mal, welche Medien gab es in Ihrer Kindheit?
Holger Brauer: Mein Hauptmedium war das Fernsehen. Dazu gab es das Radio. Mit neun Jahren bekam ich meine erste Stereoanlage. Ich erinnere mich auch noch an den Walkman und den Videorekorder – zuerst Super 2000, dann VHS. Und wie viele andere hatte ich den Commodore 64 als ersten Computer.
Was und wieviel haben Sie damals konsumiert?
Holger Brauer: Ich erinnere mich hauptsächlich ans Fernsehen, an „Marco“ und „Heidi“ im Kleinkindalter, an die Serien „Hart aber herzlich“ oder „Ein Colt für alle Fälle“ im Grundschulalter und an meine ersten Filme. „Star Wars“ zum Beispiel. Ab acht oder neun Jahren habe ich dann ganz viel Musik gehört. Schallplatten oder die Top 40 auf Radio Veronica. Erst später kamen Computer-Spiele wie „International Karate“ oder „Winter Games“ hinzu.
Kulturpessimismus schadet auch
Welche Regeln gab es damals bei Ihnen zu Hause?
Holger Brauer: Ich bin in einem technikaffinen Haushalt aufgewachsen. Mit moderner Ausstattung, was Musik, Fernsehen und Video anging. Meine Eltern waren eher liberal. Ich kann mich eigentlich an keine starren Regeln oder Verbote erinnern. Nur, dass mein Vater nicht damit einverstanden war, dass ich „Miami Vice“ guckte. Man hat früher aber auch nicht so übertrieben wie heute. Es gab drei öffentlich-rechtliche Programme und zwei niederländische Sender. Dazu nachts Testbild und Sendepause. Die privaten Sender kamen erst später dazu.
Wir schreiben das Jahr 2021: Zeitung, Radio und TV gibt es immer noch. Seit etwa 20 Jahren ist das Internet auf dem Vormarsch, Smartphones haben längst herkömmliche Telefone abgelöst, E-Mails und Messenger-Dienste den klassischen Brief. Wir streamen statt fernsehen. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Holger Brauer: Im Rückblick wirkt die Entwicklung logisch. Alles baut aufeinander auf. Nur, dass die Entwicklung der neuen Medien viel schneller voranschreitet als früher. Zunächst Mitte der 90er Jahre mit der rasanten Verbreitung des Internets, dann in den 2000ern mit dem Beginn von Web 2.0 beziehungsweise Social Media, allen voran Facebook. Ab da konnte sich im Grunde jeder selbst aktiv einbringen. 2007 hat Apple das iPhone vorgestellt. Und mal ehrlich: Wer kann sich heute noch ein Leben ohne Smartphone vorstellen? Nachrichten lesen, Mails checken, einkaufen – man hat das Tor zur Welt in der Hosentasche. Und es geht immer weiter. Lineares Fernsehen wird langfristig keine Rolle mehr spielen. Ich persönlich schaue außer Nachrichten und Fußballspielen kein Live-Fernsehen mehr. In den 80ern haben am Samstagabend weit mehr als 20 Millionen Menschen gleichzeitig „Wetten, dass..?“ angesehen. Das wird es so nie mehr geben. Streaming beziehungsweise Video-on-Demand ist toll, weil man selbst bestimmen kann, was man zu einer für sich passenden Zeit schaut. Gleichzeitig ist es besorgniserregend, weil es inzwischen einfach ein Überangebot gibt.
Ich verstehe, man sucht auf Netflix oder Amazon Prime einen Film und hat nach einer Stunde immer noch nichts gefunden. Frustrierend.
Holger Brauer: In der Tat. Das kann reine Überforderung sein. Und die Streaming-Angebote expandieren. Wer heute beispielsweise alle Fußballspiele gucken möchte, muss zwei Abonnements abschließen. Und wer gerne Serien schaut, guckt sie häufig in einem Rutsch. Man spricht von Binge Watching, Komaglotzen, Serienmarathon. Früher hat man eine Woche bis zur nächsten Folge warten müssen. Gefühle und Fähigkeiten wie Vorfreude, Abwarten und Geduld gehen durch Autoplay verloren. Das begann schon mit der DVD-Sammelbox und hat mit den Streaming-Diensten nun extreme Ausmaße angenommen.
Es ist aber auch nicht alles schlecht.
Holger Brauer: Überhaupt nicht. Es gab aber immer schon die sogenannte Medienmoralisierung, meist bei älteren Generationen. Das heißt: Alles, was neu ist, ist erst einmal schlecht. Das ist die kulturpessimistische Position. Ich befürworte hingegen eine kritisch-optimistische Haltung, das heißt sowohl Chancen und Nutzen als auch Gefahren und Risiken sehen. Darüber hinaus gibt es noch die medieneuphorische Position, in der potenzielle Risiken der neuen Medien nicht mitreflektiert werden. Es verursacht Stress, diese breite Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten und mit medialer Reizüberflutung umzugehen. Dies gilt insbesondere für Kinder. Erwachsene können in der Regel bewusste Entscheidungen treffen, während junge Menschen mit dieser Selbststeuerung eher Schwierigkeiten haben. Erschwerend ist das Phänomen „Fear of missing out“, die Angst, in den sozialen Medien etwas zu verpassen. Eltern sollten Kinder also dabei unterstützen, Medienkompetenz zu erlernen.
Wie geht das?
Holger Brauer: Medienkompetenz beinhaltet auch Medienabstinenz. Man muss es aushalten können, sein Smartphone beim Abendessen zur Seite zu legen. Eltern haben eine Vorbildrolle. Man kann Kindern ihren Medienkonsum nicht vorwerfen, wenn man selber die ganze Zeit sein Smartphone immer und überall griffbereit hat. Medienkompetenz bezeichnet aber vor allem die Fähigkeit, Medien und ihre Inhalte den eigenen Zielen und Bedürfnissen entsprechend sinnvoll zu nutzen und den eigenen Umgang mit Medien verarbeiten und reflektieren zu können.
Gibt es weitere Regeln, Handlungsempfehlungen?
Holger Brauer: Es gibt unterschiedliche Formen der Medienerziehung, die man durchaus auch nebeneinander praktizieren kann. Mit der restriktiven Form sind Verbote gemeint, bei der aktiven unterstütze ich mein Kind, sinnvolle Dinge zu tun. Beispielsweise Sprachaufnahmen, Geocaching, eine Homepage gestalten. Bei der Co-Mediennutzung bleibe ich mit meinen Kindern im Gespräch und am Puls der Zeit. Bei kleinen Kindern weiß ich, was sie sich anschauen und begleite sie dabei. Für sie ist Fernsehen echt, sie wissen noch nicht, was real und was fiktiv ist. Und dann gibt es noch die technische Überwachung. Das kann zum Beispiel Google Family Link sein. Damit behalten die Eltern den Überblick darüber, was ihr Kind im Internet unternimmt. Gleichzeitig kann man bestimmte Voreinstellungen vornehmen, wie zum Beispiel Zeitlimits. Grundsätzlich ist sinnvoll, Familienregeln für die Nutzung digitaler Medien aufzustellen.
Apropos Kindersicherung: Wie schütze ich mein Kind vor Gefahren im Internet, Cybermobbing und so weiter?
Holger Brauer: Durch Information, durch Medienkompetenz und durch Kontrolle. Die Nutzung von WhatsApp ist zum Beispiel im europäischen Raum erst ab 16 erlaubt. Das sieht in der Realität natürlich völlig anders aus. Profile in den sozialen Medien sollten außerdem nie öffentlich sein. Eltern können zudem Absprachen mit ihren Kindern treffen und die Geräte bis zu einem angemessenen Alter stichprobenartig kontrollieren. Ich bekomme immer wieder mit, dass Kinder von Fake-Profilen angeschrieben werden. Das sind oft keine Freunde, im schlimmsten Fall sogar Pädophile. So wie wir eine Zehnjährige niemals alleine nach Düsseldorf fahren lassen würden, können und dürfen wir sie auch im Internet nicht alleine lassen. Das ist unsere Pflicht. Zudem müssen sich Eltern mit dem Thema auseinander setzen. Wenn man Kindern ein Handy schenkt, sollte man dieses auch optimal einrichten. Es gibt zum Beispiel auch Kindersuchmaschinen wie „fragFinn“ oder „Blinde Kuh“, die nur kindgerechte Inhalte anzeigen.
Bis 13 Uhr schlafen und nachts zocken
Ab wann empfiehlt sich ein Smartphone und muss es ein bestimmtes sein?
Holger Brauer: Meine persönliche Meinung: ab der weiterführenden Schule. Der Trend sieht allerdings anders aus. 37 Prozent der Sechs- bis Neunjährigen besitzen bereits ein eigenes Handy oder Smartphone. Der größte Peak liegt heute bei neun Jahren, bei der Erstkommunion. Und auch hier sind die Eltern maßgeblich. Auch bei der Wahl des Gerätes. Ein altes Handy ohne Internetzugang ist natürlich nicht mehr „up to date“, aber das neueste iPhone muss es für die Tochter oder den Sohn auch nicht sein. Das ist dann nichts anderes als Status. Ein älteres, gut eingerichtetes Modell reicht völlig aus.
Das Wichtigste zum Schluss: Wie viel Medium verträgt ein Kleinkind, Schulkind, Jugendlicher überhaupt?
Holger Brauer: Das ist schwer zu sagen und hängt auch immer vom einzelnen Kind ab. Pauschal kann man sagen: Je jünger, desto weniger. Im besten Fall schützt man ganz kleine Kinder vor Medien. Wie sagt man doch so schön: Die Dosis macht das Gift. Denn die Folgen können gravierend sein: verminderte körperliche Fitness, Übergewicht, abgekippte Kopfhaltung. Unter Umständen kann Medienkonsum auch negative Auswirkungen auf das Selbstbewusstsein und auf die Persönlichkeitsentwicklung haben. Kinder, die viel konsumieren, können sich meist auch schlechter konzentrieren.
Sorgen über die Folgen der Corona-Krise
Corona und die Beschleunigung der Digitalisierung spielen also einem verantwortungsvollem und limitierten Medienkonsum nicht gerade in die Karten. Schule findet zum Teil nur noch digital statt, statt Freunde zu treffen verbringen Jugendliche ihre Zeit mit Computerspielen, Videoanrufen und Streamingdiensten. Was macht das mit den Kindern?
Holger Brauer: Das habe ich bisher ganz unterschiedlich erlebt. Es gibt Kinder und Jugendliche, die durch die ruhigere Lernatmosphäre regelrecht aufblühen. Andererseits gibt es auch viele, die mit der Situation völlig überfordert sind. Allgemein kann man sagen: Jüngeren Kindern fehlen die sozialen Kontakte, sie wollen ihre Klassenkameraden sehen, spielen, albern sein, sie vereinsamen mehr und mehr. Älteren Jugendlichen hingegen fehlt oft die Struktur. Sie schlafen bis 13 Uhr mittags und zocken bis 3 Uhr nachts. Sie lassen sich treiben und tun häufig nichts mehr, auch weil sie wissen, dass sie nicht mehr sitzenbleiben können. Ehrlich gesagt machen wir uns Sorgen um die möglichen Folgeschäden der Corona-Krise.
Kostenlose Mediensprechstunde - auch ohne Termin!
Die Mediensprechstunde findet jeden dritten Dienstag im Monat im neu errichteten Familienbüro der Stadt Emmerich, Steinstraße 10, statt.
Start ist am 19. Januar von 15 bis 17 Uhr.
Das kostenlose Angebot richtet sich an Eltern, bei Bedarf können auch Kinder und Jugendliche kommen.
Über das Sekretariat der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Familien des Caritasverbandes Kleve e.V. in Emmerich, Telefon 02822/10829, können Termine vereinbart werden.
Gerne kann man aber auch ohne Termin erscheinen. In diesem Fall sollte eine kurze Wartezeit eingeplant werden.
Weitere Caritas-Angebote im Januar im ebkes
Der Caritasverband Kleve bietet neben der Mediensprechstunde mit Holger Brauer auch Erziehungsberatung mit Claudia Kapahnke am Dienstag, 19. Januar, 9-11 Uhr, Migrationsberatung mit Markus Beckers am Mittwoch, 20. Januar, 14-16 Uhr, und Erziehungsberatung mit Katja Kleinebenne am Donnerstag, 28. Januar, 14-17 Uhr, im Familienbüro ebkes der Stadt Emmerich an.
Autor:Lokalkompass Emmerich aus Emmerich am Rhein |
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