Karibik - nach Amazonas, Teufelsinsel und Orinoko

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Montags, am 5. November 2012, legten wir in Kingstown/ St. Vincent & Grenadines an.
Der Ort selber sieht nicht viel anders aus als die anderen kleinen Häfen. Eine sehr betriebsame Hauptstraße mit kleinen Marktständen an den Seiten, laut, bunt, chaotisch und manchmal übel riechend. Die Architektur ist bunt gemischt: koloniale neben modernen Bauten, neu neben alt und kaputt.
Ich erinnerte mich: 2009 hatten wir auch hier angelegt und waren entsetzt gewesen von der tristen Armseligkeit im strömenden Regen. Ohne die Sonne und ihre leuchtend bunten Farben bleibt wirklich nicht viel Schönes.

Wir wollten zum botanischen Garten. Er musste irgendwo hier ganz in der Nähe sein. Hinterher vielleicht auch noch hoch zum Fort Charlotte auf einem Hügel oberhalb der Stadt. Wahrscheinlich hatte man von dort oben einen fantastischen Ausblick über die Stadt und den Hafen. Aber erst zum botanischen Garten, dem ältesten der Karibik.
Wir waren nicht die Einzigen, die ihn mit Karte in der Hand suchten. Immer wieder fragten wir nach. Die Leute zeigten sich bereitwillig und freundlich, wiesen hierhin und dahin, gingen oft noch ein paar Meter mit und winkten uns zum Abschied.
Auf diese Weise kriegten wir viel von der Stadt zu sehen, auch Privatgrundstücke, Hinterhöfe und Sackgassen. Nur nicht den Botanischen Garten. Das dauerte. Als wir ihn endlich erreichten, waren wir von dem endlosen Gelatsche in der Gluthitze aufgeweicht wie Gelantine.
Aber es hat sich gelohnt. Ein wunderschöner Park mit uralten, riesigen Bäumen, die uns gnädig zwischendurch immer wieder Schatten spendeten. Unser Führer zeigte uns sehr engagiert all diese exotischen Pflanzen, Büsche, Bäume, Gewürze. Alles wuchs dort im Überfluss, sogar im Gras sprossen noch Kräuter.
Leider weigert sich mein Gedächtnis, all die Namen, die wir gehört haben, den Blüten und Pflanzen noch zuzuordnen. Weg.

Fürs Fort blieb keine Zeit mehr. Wir mussten zurück zum Schiff, denn es ging nachmittags noch ein paar Meilen weiter zu der Insel Beguia, ebenfalls auf den Grenadinen.

Wir waren schon mächtig gespannt auf St. George’s auf Grenada. Hier hatte im September 2004 der Hurrikan Ivan getobt und alles zerstört. Er hatte 39 Tote gefordert und 85% der Gebäude zerstört. Als wir 2009 die Schäden hier mit eigenen Augen zum ersten Mal gesehen haben, vermochten wir es kaum zu glauben. Wie konnten die Menschen hier noch leben? Nichts war mehr heil, alles, alles kaputt.
Ob ein Teil der Schäden inzwischen wieder behoben war? Die Kirchen neu aufgebaut? Dächer repariert?
Wir waren so gespannt!

Vom Schiff aus sah die Stadt ganz normal aus. Wir beeilten uns, von Bord zu kommen und stiegen als erstes wie schon damals zum Fort hoch. Erinnerungen wurden wach und wir wandelten ein bisschen melancholisch auf den Spuren der Vergangenheit. Wie wir mit unseren Stuttgartern Ilse und Wolfgang hier gewesen waren. Wie uns ein plötzlicher Wolkenbruch da an diese Wand genagelt hatte. Wie Wolfgang die Polizeistation hier oben besucht und den Kollegen als ehemaliger Polizeibeamter ein deutsches Souvenir geschenkt hatte…
Aber dann ließen wir unseren Blick schweifen und erschraken. Nichts hatte sich geändert, so gut wie nichts. Zwar wurde an der einen Kirche gearbeitet, aber wie viel Zerstörung noch immer nach all den Jahren! Wahrscheinlich war kein Geld für den Wiederaufbau vorhanden.
Die kleinen Kinder hier mussten ihre zerstörte Stadt für normal halten. Kirchen ohne Dach und Seitenwände, kaputte Mauern in ihren Schulen, hatten sie überhaupt noch Kindergärten? Und zuhause? Wenn es rein regnet und man sich nur notdürftig vor der Nässe schützen kann? Gottlob ist es hier in diesen Breiten wenigstens warm.

Sehr nachdenklich schlenderten wir durch die Straßen. Irgendwie fehlte auch der Duft der Muskatnuss von damals. Die ganze Stadt auf dieser Gewürzinsel hatte geduftet. Ich hatte es nie vergessen. Es zog uns von der Oberstadt runter Richtung Markt. Wir erinnerten uns an diese steile Straße, die unten in den riesigen, teils offenen, teils überdachten Markt mündete.
Dieser überwältigende, alles betäubende Duft der Gewürze hätte uns längst einhüllen müssen.
Wo war der Markt geblieben?
- Doch nicht etwa da in diesen neuen, hässlichen Hallen?
Ein Einheimischer nuschelte im Vorbeigehen irgendwas von someone of your ship.
Während ich noch verständnislos nach ihm umschaute, hatte mein lieber Mann bereits entdeckt, was los war.
Ein Menschenknäuel dort drüben im Eingang zu diesen Hallen gab einen Moment lang die Sicht frei auf eine alte Frau, die blutüberströmt auf dem Bordstein hockte. Martha
Schon rannten wir los. Martha war eine Institution an Bord, ein Dauergast auf der AMADEA.
Wir hatten zwar noch nie ein Wort mit ihr gesprochen, aber sie hatte ihren Stammplatz schräg hinter uns, und wie jeder an Bord, kannten wir sie vom Hören-Sagen und Sehen.
Und jetzt war Martha wie Hans-Guck-in-die-Luft über einen hohen Bordstein gestolpert und hatte sich böse weh getan. Alle Marktfrauen standen händeringend um sie herum, liefen nach Kleenextüchern und anderen Hilfsmitteln. Fast hätten sie einen Krankenwagen gerufen, als sie uns kommen sahen und glücklich die Verantwortung abgeben konnten.
Martha wollte nur an Bord, weder Krankenwagen noch fremden Arzt oder Klinik. Taxi auch nicht. „Is doch nix passiert. Et geht mir doch gut.“
Also nahmen wir Martha in unsere Mitte und stützen sie zwischen uns die paar hundert Schritte vorsichtig bis zum Schiff. Die Gangway hoch: “Langsam jetz, ich habbet doch en bissken am Herz.“
Die Crew hatte gerade Seenotrettungsübung und stand in ihren dicken, roten Rettungswesten übers Schiff verteilt in den Gängen des Schiffes. Der Doc und seine Assistentin auch.
Noch während wir mit Martha im Lift zur Krankenstation hochfuhren – „huch, wie seh ich denn aus???“, als sie sich selber zum ersten Mal blutüberströmt im Spiegel sah, hörten wir die Lautsprecherdurchsage: Doktor…, Doktor… bitte sofort auf die Krankenstation. Doktor…bitte umgehend auf die Krankenstation. – This - is – not - part – of – the - drill! I repeat: this is not part of the drill!“ (Dies ist nicht Teil der Übung!)

Martha hat’s überstanden. Über dem riesigen, blauschwarzen Veilchen prangte die ebenso schwarze Naht, mit der der Doc die klaffende Wunde zusammengenäht hatte. Dagegen verblassten die Bandagen und Verbände an Armen und Beinen. Martha kam aus dem Erzählen gar nicht mehr heraus…

Damit war die Kreuzfahrt so gut wie beendet. Am Mittwoch, 7. November 2012, wollte ich eigentlich packen. Aber wir lagen in El Guamache auf der Isla Margarita/ Venezuela. Direkt in einer smaragdgrünen Badebucht. Mit lauwarmem Wasser…
Das Packen musste warten.

Am nächsten Tag wurden wir mit Bussen zum Flughafen von Caracas/ Venezuela gekarrt, nachdem unsere am Pier aufgereihten Koffer immer wieder von Drogenhunden beschnüffelt, übersprungen und umgeschmissen worden waren.
Die große LH-Maschine hätte uns beinahe mit einem bequemen Rückflug noch vor der geplanten Zeit nach Frankfurt gebracht. Wäre da nicht die Notlandung in London-Heathrow gewesen wegen eines medizinischen Notfalls…

Autor:

Christel Wismans aus Emmerich am Rhein

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