Ein Bild - Eine Geschichte
Traum und Wirklichkeit

Erleichterung durchflutete Madalen, als sie von dem Felsvorsprung in das tiefe Tal blickte. Tränen flossen über ihre Wangen und sie musste sich schwer auf ihren Wanderstab stützen, als ihre Beine unter ihr nachzugeben drohten. Diesen Ausblick hatte sie in ihren Träumen gesehen, als sie sich verzweifelt danach sehnte, ihrem eintönigen Leben in Jarons Harem zu entkommen. Auch wenn sie ihre Zweifel nie gezeigt hatte, so hatten sie die ganze Zeit an ihr genagt. Bildete sie sich alles nur ein? Hatte Alvaro ihr nur einen Floh ins Ohr gesetzt? War sie am Ende doch nichts Besonderes, nur eine Frau, die sich nach ein wenig Aufmerksamkeit sehnte? Doch er hatte sich nicht getäuscht. Sie war eine Tochter aus dem alten Herrschergeschlecht, das längst als ausgestorben galt. Der Beweis lag vor ihr. Sie hatte den Weg durch das Gebirge in ihren Träumen gesehen und nun hatte sie ihn in der Wirklichkeit gefunden.
Sie richtete sich auf, straffte die Schultern und wischte sich die Tränen von den Wangen. Es war nur der Anfang, der Weg war noch weit und voller Gefahren.
„Das ist er?“ Alvaro war neben sie getreten und schaute ebenfalls in das tiefe Tal hinab.
Madalen nickte und lächelte zaghaft. Ohne ihn wäre sie immer noch in den Gemächern von Jarons Palast eingesperrt, als eine Frau von vielen. Nur selten hatte er bei ihr gelegen und sie dankte dem heiligen Doppelgestirn dafür, dass sie nie sein Kind empfangen hatte. Auch wenn das bedeutete, dass sie den Müttern von Jarons Kindern zu dienen hatte, da sie im Rang unter ihnen stand. Ihre Hand wanderte zu dem Stein, der an einer Silberkette um ihren Hals hing. Und zum Glück hatte Jaron auch nie die Bedeutung dieses Steines erkannt.
Alvaro sah sie an, so intensiv, wie an jenem Tag, als sie ihm das erste Mal gegenüberstand.
Zu ihren Aufgaben hatte es gehört, dass sie für die höher gestellten Haremsdamen Botengänge erledigte, wenn es um den Kauf von Stoffen und Schmuck ging. Sie ging nie allein, war immer von Jarons Soldaten umringt. Doch an jenem Tag gerieten sie in einen Tumult auf dem Markt und wurden getrennt. Plötzlich war Madalen das erste Mal seit vielen Jahren ohne Aufsicht. Hektisch hatte sie sich umgeschaut, nach einer Fluchtmöglichkeit gesucht, als sie am Arm gepackt und in eine Seitengasse gezogen wurde. Sie wollte schreien, doch eine Hand legte sich auf ihren Mund.
„Still, ich tue dir nichts.“ Sie kannte diese Stimme. Sie hatte sie in ihren Träumen gehört. Sie nickte und der Mann nahm die Hand herunter. Der Mann aus ihren Träumen. Sie erkannte ihn im Halbdunkel der engen Gasse. „Komm mit mir.“ Er hatte ihr die Hand entgegengestreckt und sie hatte sie genommen. Sie war mit ihm gegangen, weil sie ihm schon seit langer Zeit vertraute. Er hatte gewusst, was dieser Stein und ihre Träume bedeuteten. Er hatte ihr Mut gemacht, an sich zu glauben, keine Angst zu haben, sondern tapfer voranzuschreiten.
Alvaro nahm ihre Hand und drückte sie kurz. „Der Hang ist recht steil, aber ich denke, wir können es schaffen, hinunter zum Fluss zu gelangen.“ Seine Augen sprühten vor Hoffnung. Kurz zögerte er, dann zog er sie an sich und drückte ihr einen festen Kuss auf die Lippen.
Madalen starrte ihm hinterher, als er Befehle gab, einen Teil der Lasten der Packtiere auf die Reittiere zu verteilen und diese an der Hand zu führen. Sie waren nur eine kleine Gruppe. Männer, Frauen, ein paar Kinder. Alle wollten ein neues Leben anfangen, fern von Sklaverei und Unterdrückung. Es hatte noch niemand geschafft, das Gebirge zu überqueren. Diejenigen, die es versucht hatten, waren nicht zurückgekehrt. Nur sie kannte den Weg. Man würde sie auf der anderen Seite nicht suchen. Langsam, einer nach dem anderen, verschwanden sie zwischen den Bäumen.
Alvaro streckte die Hand nach ihr aus und sie folgte ihm. Sie konnte seine Lippen immer noch auf den ihren spüren und seufzte leise. Ihr Herz schmerzte, als sie zusah, wie er den Leuten Mut zusprach, dem ein oder anderen stützend unter die Arme griff und sich immer wieder nach ihr umsah. Oh ja, sie hatte den Weg durch das Gebirge gefunden, doch Alvaro war am Ende nicht mehr dabei. So sehr sie in ihren Träumen nach ihm suchte, es schien, als hätte sie ihn schon verloren.
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Autor:

Sabine Kalkowski aus Bergkamen

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