Gegen das Vergessen
Verlegung einer Stolperschwelle und Gedenkstunde für die ermordeten Patientinnen und Patienten der damaligen Rheinischen Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau

Foto: GvM
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Charlotte Giesbers-Reijngoudt, Vorsitzende des Fördervereins Bedburger Begegnungspark: 
Einer der Bausteine unseres Vereins ist die Erinnerungskultur. Im Rahmen dieser Erinnerungskultur wird heute eine Stolperschwelle für die unschuldigen Opfer, die während des Zweiten Weltkrieges von Bedburg-Hau aus deportiert wurden, verlegt. Gemeinsam mit acht Jugendlichen aus Bedburg-Hau werden wir eine Rede von Sigrid Falkenstein verlesen, der Nichte von Anne Lehnkering, die Anfang März 1940 von hier aus deportiert und in Grafeneck ermordet wurde. Bevor ich das Wort an die Jugendlichen übergebe, möchte ich noch einen jugendlichen Zeitzeugen aus dem Jahr 1941, einen 11-jährigen Jungen, der genau an dieser Stelle, ein eingreifendes Erlebnis hatte.
„Ich machte mal wieder eine Tour mit der Straßenbahn nach Bedburg. In Bedburg habe ich mich vorher nie lange aufgehalten, nur an der Haltestelle, habe geschaut und bin wieder zurückgefahren. Nur an diesem Tag hörte ich Musik, als ich ausstieg. Wie mir heute noch einfällt, war es Militärmusik. Ich war wissbegierig und ging auf die Anstalt zu. Wo heute die Ausfahrt ist, war damals auch der Eingang. Dort standen mehrere Gruppen Rote-Kreuz-Schwestern an länglichen Holztischen, und aus der Anstalt kamen gruppenweise Leute, sprich Patienten, gingen an den zwei Tischen vorbei, bekamen Getränke von denen ich heute nicht mehr genau sagen kann, was es gewesen ist, Kakao oder Limonade, und jeder bekam, soweit ich mich erinnern kann, ein Verzehrpaket. Die Musik spielte lustige Weisen. …Die Patienten stiegen in drei bis vier aufgestellte Busse ein. Von den Altersgruppen waren die Patienten gemischt. Die Frauen und Männer mussten getrennt einsteigen. Kinder habe ich nicht gesehen. Die Busse waren mit Birkenreisig geschmückt. Jeweils an den Seiten, vorne und hinten waren über Kreuz kleine Hakenkreuzfahnen befestigt. Wissbegierig wie ich war, frug ich eine Schwester, sowie man als Jugendlicher fragt: ‚Wo fahren die hin?‘ da sagte sie zu mir: ,Wir machen heute eine Fahrt ins Blaue‘. Diese Worte gehen mir nicht mehr aus dem Kopf heraus.“

Emma Reingoudt:
Vor vierundachtzig Jahren begann an diesem Ort die Reise in den Tod von mehr als zweitausend Patientinnen und Patienten der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau. Der Transport geschah im Rahmen der „Aktion T4“ und war Teil der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Verbrechen, denen insgesamt mehrere hunderttausend Menschen mi psychischen Erkrankungen, geistigen oder körperlichen Behinderungen zum Opfer fielen. Unfassbare zahlen – doch das war keine anonyme Masse, sondern es waren einzelne Menschen, die ausgegrenzt, gedemütigt und am Ende vernichtet wurden. Menschen die lachten oder weinten, fröhlich oder traurig waren, und sie alle hatten einen Namen und ein Gesicht – so wie meine Tante Anna Lehnkering.
Heute wird hier im Gedenken an die Opfer eine Stolperschwelle verlegt. Das erinnert mich an den 9. April 2009. An diesem für mich unvergesslichen Tag hat der Künstler Gunter Demning in Mühlheim an der Ruhr einen Stolperstein für Anna verlegt. Leider kann ich heute aus privaten Gründen nicht an dieser Gedenkstunde teilnehmen, werde jedoch in Gedanken dabei sein. Es freut mich sehr, dass diese Jugendlichen an diesem für Anna so schicksalshaften Ort meinen Text vorlesen und damit an Annas Geschichte erinnern."

Milla Reckers:
Spurensuche -
Anna, die in der Familie Änne genannt wurde, war die Schwester meines Vaters, also eine ganz nahe Verwandte. Trotzdem wusste ich nichts über ihr Schicksal, bis ich ihren Namen 2003 per Zufall im Internet auf einer Liste von Opfern der NS- „Euthanasie“ fand. Erst da erfuhr ich, dass sie von 1936 bis 1940 Patientin in Bedburg-Hau war. Ännes letzte Reise begann genau hier und endete am 7 März 1940 in der Gaskammer von Grafeneck.
Die furchtbaren Ereignisse wurden in meiner Familie jahrzehntelang verschwiegen – so wie in vielen betroffenen Familien. Heute weiß ich, dass dies viel mit Scham- und auch Schuldgefühlen zu tun hatte. Es kam erschwerend hinzu, dass die gesellschaftlichen Vorurteile gegen die Opfer und ihre Familien noch lange nach Kriegsende weiter existieren. Das Schweigen war Spiegel eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses von Verdrängen, Vertuschen und Verleugnen der Verbrechen.
Nach einer langen und schwierigen Spurensuche konnte ich Ännes Biografie schließlich aus vielen Puzzleteilen zusammensetzen. Dabei halfen mir unter anderem die Patientenakte aus Bedburg-Hau, Bruchstücke aus dem Familiengedächtnis sowie Bücher von Ernst Klee und vor allem von Ludwig Hermeler.
Zu viel, um heute alles zu erzählen! Darum sollen im Folgenden nur einige Geschehnisse erwähnt werden, die mit Bedburg-Hau zu tun haben. Wer mehr erfahren möchte, kann Ännes Geschichte in meinem Buch „Annas Spuren“ nachlesen.

Keano Janssen:
Ännes Geschichte -
Änne wird 1915 geboren und wächst im Ruhrgebiet auf. Weil ihr das Lernen schwerfällt, muss sie eine Hilfsschule besuchen. Danach kann sie keinen beruf erlernen, hilft aber fleißig im elterlichen Haushalt mit. Nach und nach geraten Änne und ihre gesamte Familie in das Räderwerk der nationalsozialistischen Rassenhygiene, die besagt, dass nur „Erbgesunde“ der „Volksgemeinschaft angehören sollen. Ännes Diagnose lautet „angeborener Schwachsinn“. 1935 wird sie zwangssterilisiert und ein Jahr später – kurz vor Weihnachten – in die Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau eingewiesen.
Änne ahnt an jenem 21. Dezember 1936 nicht, dass sie niemals wieder ein Weihnachtsfest mit ihrer Familie verbringen würde. Wie groß muss ihr Schock sein, als sie nach der Aufnahmeprozedur den Schlafsaal mit den zahlreichen Metallbetten betritt, der in den nächsten Jahren ihr Zuhause sein wird. Unter unsäglich beengten Bedingungen gibt es noch nicht einmal Kleiderschränke oder Nachtschränke für private Gegenstände. Es ist nicht einfach, das Krankenblatt zu lesen, was nicht nur an der alten Sütterlinschrift liegt. Die Eintragungen sind teilweise in einer menschenverachtenden Sprache verfasst.

Emma Roelofs:
Änne wird als „albern“, „läppisch“ und „unsauber“ bezeichnet. Wie verräterisch Sprache sein kann, zeigt die Notiz, dass sie „lästig“ sei! Zwischen den Zeilen ist zu spüren, wie verzweifelt Änne gekämpft und gelitten hat. Einträge wie „sie weint oft, drängt nach Hause“ machen das herz schwer. Etwas von ihrer Trostlosigkeit ist zu spüren, wenn man liest: Ist still, legt den Kopf auf den Tisch, ist antriebslos und weinerlich, muss zum Essen angehalten werden.“ Der größte Teil der Eintragungen bezieht sich darauf, dass sie nicht arbeiten will. So heißt es: „… arbeitet überhaupt nicht. … Ist weder im Schälkeller noch am Tisch zur Ordnung zu bringen. … Tut nichts, sitzt nur herum.“ Offensichtlich passt Änne sich der Situation nicht an, denn man bezeichnet sie zunehmend als schwierige Patientin. Laut Krankenblatt ist sie „abweisend und wenig folgsam“. Was Änne nicht wissen kann, erfüllt sie damit die Auswahlkriterien ihrer späteren Mörder perfekt. Sie gilt als „unheilbar erbkrank“, als schwierige Patientin und – ganz wesentlich – als „ökonomisch unbrauchbar“ und wird daher als „lebensunwerter Ballast“ zur Vernichtung bestimmt.

Manon Reijngoudt:
Als Anfang 1940 eine Delegation unter Führung des ärztlichen Leiters der Berliner T4-Organisation in Bedburg-Hau ankommt, ahnen wohl die wenigsten, dass diese Kommission über die „Verlegung“ der Patientinnen und Patienten entschieden wird, mit anderen Worten, über deren geplanten Ermordung. Für die Selektion werden Meldebögen benutzt, die man auf Grundlage der vorliegenden Patientenakte ausfüllt. Wesentliche Kriterien sind Verhalten, Ausmaß der Störung, Sauberkeit und Arbeitsfähigkeit der Patientinnen und Patienten. Sogenannte „Gutachter“ und „Obergutachter“ entscheiden dann einzig anhand der Meldebögen über Leben und Tod. Wenn sie – so wie auf Ännes Meldebogen – mit Rotstift ein Plus vermerken, ist damit der Tod besiegelt. Ein blaues Minus hätte Leben bedeutet. In der Folge kommt es im März 1940 in Bedburg-Hau zu einer Massendeportation, angeblich um Platz für ein Marinelazarett zu schaffen. Änne wird am 6 März zusammen mit mehr als vierhundert Frauen und Männer nach Grafeneck deportiert. Grafeneck – Ort der ersten systematisch-industriellen Massenmords im Nationalsozialismus! Der Transport in den Tod geschieht mit einem Sonderzug der Reichsbahn. Welche Anspannung und Hektik müssen in jenen Tagen hier geherrscht haben. Ob Änne die Unruhe spürte, als das Pflegepersonal mit den Vorbereitungen zum Abtransport beginnt? Möglicherweise ist es aber beruhigend, dass man die wenigen persönlichen Gegenstände, die die Reisenden mitnehmen dürfen, sichtet und auflistet. Das macht es leichter, an eine Verlegung aus Platzgründen zu glauben. Um die spätere Feststellung der Identität zu erleichtern, werden die die Menschen vor der Abreise gekennzeichnet. Wie Brandzeichen tragen sie die Angaben zu Person entweder auf einem Pflasterklebestreifen oder mit Tintenstift direkt auf die Haut geschrieben.

Meret Reckers:
Nicht weit von hier werden Änne und die anderen in zehn Waggons der Reichsbahn "verfrachtet". Die Fahrt in dem kriegsbedingt verdunkelten Zug dauert einen Tag und eine Nacht. Nachdem der Zug am Morgen des 7. März in der Nähe von Grafeneck angekommen ist, werden die Ankömmlinge das letzte Wegstück mit Kraftfahrzeugen steil bergauf zu dem abgelegenen Schloss Grafeneck transportiert. Vorbei an bewaffneten Männern mit Hunden gelangen sie zu einem Barackengelände, das von einem mit Stacheldraht verstärkten Bretterzaun umgeben ist. Nach der Ankunft werden die Menschen in die Aufnahmebaracke geführt. Sie müssen sich ausziehen und werden dann von Schwestern gemessen, gewogen, fotografiert und zur Untersuchung gebracht. Um Unruhe zu vermeiden, ist man bemüht, alles so normal wie möglich aussehen zu lassen. Die Untersuchung durch den Arzt ist eine farce, sie dauert weniger als eine Minute. Es geht lediglich um die Feststellung der Identität, wobei die Kennzeichnungen aus Bedburg-Hau helfen. Es ist bitterkalt an diesem schneereichen Vorfrühlingstag im März und die Menschen frieren, als sie nach der Aufnahmeprozedur halbnackt am Brennofen vorbei zu dem als Duschraum getarnten Todesschuppen gehen. Ich hoffe inständig, dass sie bis zum Schluss glauben, es gehe tatsächlich zum Duschen. Weit über 10.000 Menschen werden allein in der Gaskammer von Grafeneck innerhalb eines Jahres ermordet, anschließend verbrannt und zu meist namenlos verscharrt.  Änne ist 24 Jahre alt, als ihr Leben in der unvorstellbaren Hölle von Grafeneck vernichtet wird.

Liam Janssen:
Erinnerungsarbeit -
Und was geschah danach? In Bedburg-Hau wurde - wie überall - jahrzehntelang ein Mantel des Schweigens über die Verbrechen gelegt. Der größte Teil der Täter entging nach dem Kriegsende der Bestrafung. Viele setzten ihre Karrieren fort. Wer mehr zu den Vorkommnissen in Bedburg-Hau wissen will, dem sei das Buch von Ludwig Hermeler ans herz gelegt (Die Euthanasie und die späte Unschuld der Psychiater. Massenmord, Bedburg-Hau und das Geheimnis rheinischer Widerstandslegenden).
Zu Beginn meiner Spurensuche bin ich auf unerwartete Schwierigkeiten, auf Mauern aus Gleichgültigkeit und Ignoranz gestoßen. Doch heute ist nicht der Tag im Zorn zurückzublicken. Inzwischen hat sich die Erinnerungskultur auch in Bedburg-Hau zum Positiven geändert.
Von diesem Wandel zeugt nicht nur das Namensbuch, das seit 2009 an die Namen der deportierten Patienten und Patientinnen erinnert und ihnen somit ein Stück ihrer Identität zurückgibt.
2006 schuf die Künstlerin Ulrike Oeter die berührende Installation der Erinnerung, die sie ,,Aenne´s letzte Reise" nannte. Dankenswerterweise hat die LVR-Klinik Bedburg-Hau diese Rauminstallation 2009 erworben, und seitdem sind Ännes Gesicht und ihr Name stellvertretend für die anderen Opfer im Klinikmuseum zu sehen.

Elizabeth Kneppeck:
Und das ist nicht die einzige Würdigung, die Änne in Bedburg-Hau zuteilwurde. 2012 durfte ich an der Premiere der Inszenierung ,,Ännes letzte Reise" teilnehmen. Das Kinder- und Jugendtheater Mini-Art erinnert damit an Änne und stellt darüber hinaus eine Verbindung zur Gegenwart her.  Auf der Website des Theaters wird das Stück zu Recht als eine ,,Parabel für die Achtung der Menschenrechte, für den Umgang mit dem Anderen und für die Frage nach dem 'Wert' eines Menschen" bezeichnet. Ja, ich bin sicher, dass es kein Verständnis von Gegenwart und Zukunft gibt ohne Erinnerung an die Vergangenheit! ,,Ännes letzte Reise" hat inzwischen das Publikum an vielen Orten tief berührt und zum Nachdenken gebracht. Ich bin dem Theater-Team - vor allem Crischa Ohler und Sjef van der Linden - für ihre großartige Erinnerungsarbeit sehr dankbar.
Annas Geschichte zeigt, dass der Einsatz - manchmal auch Kampf - gegen das Vergessen und für die Erinnerung nicht vergeblich war und ist. Wer könnte das besser bezeugen als die Menschen, die hier heute versammelt sind. Wie oft sind es Einzelne, die sich gegen das Schweigen und Vergessen zur Wehr setzen. Ich habe in Bedburg-Hau engagierte Mitstreiter gefunden, die sich viele Jahre aktiv für ein würdiges Gedenken an di ,,Euthanasie"-Opfer eingesetzt haben. Stellvertretend für viele andere möchte ich an dieser Stelle an Heinz Oberbanscheidt erinnern und ihm für seine Erinnerungsarbeit danken.
Mein besonderer Dank gilt Gunter Demnig, der mit seinen ,,Stolperstein-Projekt gegen das Vergessen" seit vielen Jahren einen beeindruckenden und wichtigen Beitrag zur deutschen Erinnerungskultur leistet.
Und zu guter Letzt möchte ich mich bei Charlotte Gisbers-Reijngoudt, dem ,,Förderverein Bedburger Begegnungspark" und dem Rat der Gemeinde Bedburg-Hau bedanken, die die heutige Verlegung der Stolperschwelle in die Wege geleitet haben. Es ist gut zu wissen, dass die Erinnerungsarbeit in Bedburg-Hau weitergeht, und dass hier ein Ort des Gedenkens und der Trauer entsteht, der zugleich ein Ort der Hoffnung ist. Ein Ort, von dem der Ruf NIE WIEDER ausgeht!
Sigrid Falkenstein, Berlin, im Mai 2024

Autor:

Günter van Meegen aus Bedburg-Hau

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