Liu Zongyuan, Fluss im Schnee [6/10]

Tausend Berge, die Vögel außer Sicht
Pfade zahllos, von Menschen Spuren nicht
Flaches Bötchen, mit Mantel, Schirm ein Greis
Eine Angel, am Fluss wo Schnee fällt dicht

Trotz einfacher Struktur birgt die Übertragung dieses Gedicht aus der Tangzeit von Liu Zongyuan (773-819) Schwierigkeiten. Überhaupt ist „Übersetzen verraten“. Oder wie es in einem Blog heißt: „Man kann falsch übersetzen. Richtig übersetzen kann man im Grunde nicht.“

Aber es ist eine gute Übung, vor allem weil die Dinge richtig benennen zu können eine hohe Tugend ist. Und es ist gut zu merken, was man opfert, weil etwas reimen soll, oder weil der Satz eine gewisse Silbenzahl haben muss.

Mehrere Begeisterte teilen im weltweiten Netz mit uns ihre fortschreitenden Kenntnisse auf dem Gebiet der alten chinesischen Dichtkunst und ihre Versuche einer Übersetzung. Es ist eine hohe Schule in Vorläufigkeit.

Zum Lied: die ersten beiden Zeilen liefern einen Parallelismus und enden mit einem Begriff aus dem Buddhismus: „Erlöschen“, hier: "nicht".

Was kann man da noch sagen, fragt man sich. Das fast unendliche Bild der tausend Berge und den zehntausend, also unendlich vielen Pfade macht Platz für zweimal eine Eins: ein einziger Kahn und eine einzige Angel.

Anstatt fliegende Vögel die verschwinden und Menschenspuren die „erlöschen“, erscheint ein alter Mann in einem Strohmantel und mit einem großen Strohhut worunter er völlig verschwindet.

In der letzten Zeile wird deutlich was dieses „außer Sicht sein“ und „nicht da sein“ hervorbringt: es ist der Schnee. Weiß wie Schnee, aber es wird erst mal dunkel und finster und alle Formen verschwinden, um dann später, jungfräulich wieder zu erscheinen. Bis der Mensch wieder Spuren hinterlässt und dann schneit es wieder...

Autor:

Jan Kellendonk aus Bedburg-Hau

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