Serie "Gastarbeiter"
Mit neun Jahren schon erwachsen
Es war ein kleines Dorf in den griechischen Bergen, etwa 30 Kilometer von der Hafenstadt Igoumenitsa entfernt, gegenüber der Insel Korfu, in dem Kristallo "Krista" Müller 1950 das Licht der Welt erblickte. Es sollten sieben Geschwister folgen. Ein Umstand, der für sie viel Verantwortung, viel Arbeit, aber auch Leid und Entbehrungen bedeutete.
Es war ein sehr einfaches Leben, das die Menschen in den 50er Jahren in Xirolofos führten. "Kein fließendes Wasser, keine Elektrizität, wir lebten gemeinsam mit der Familie meines Onkels in einem Ein-Raum-Haus", fasst Krista zusammen. In der Mitte des Raumes wurde eine Holzwand hochgezogen, um die Bereiche beider Familien zu teilen. Regenwasser wurde gesammelt, um es zu erhitzen und die Wäsche darin zu waschen. Licht gab es in Form von Petroleumlampen, gekocht wurde auf offener Flamme, gebacken in einem großen Steinofen. Die Familie hielt einige Schafe, aus der Wolle wurden Socken oder Decken gestrickt oder gewebt.
"Wir mussten niemals hungern"
Überwiegend versorgte sich die Familie selbst, Mais, Weizen und Gemüse wurden auf dem eigenen Land angebaut. "Es waren einfache Verhältnisse, aber wir kannten es nicht anders", sagt die 74-Jährige heute. Und sie betont: "Wir mussten niemals hungern." Besonders gern erinnert sie sich an den Zusammenhalt im Dorf und an das Zusammenleben mit ihrer großen Familie.
Vor der Schule zwei Stunden lang Wasser holen
Als ältestes von acht Kindern musste Krista schon früh mithelfen, die Familie zu versorgen. Der Vater war als Tagelöhner oft wochenlang weg, die Mutter auf die Unterstützung ihrer "Großen" angewiesen. So musste Krista unter anderem vor Schulbeginn eine Stunde den Berg hinab laufen, um Frischwasser aus einem Brunnen zu holen, das sie dann in einem Holzgefäß auf dem Rücken wieder eine Stunde den Berg hinauftragen musste. Danach ging es beschwingt zur Schule: "Ich bin sehr gerne dorthin gegangen, habe mit Begeisterung Neues gelernt."
1960 ging der Vater zum Arbeiten nach Deutschland
1960, Krista war zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alt, gehörte ihr Vater zum ersten Schwung griechischer Gastarbeiter, die einen Arbeitsvertrag in Deutschland erhielten. "Das war für mich nicht sonderlich schlimm. Mein Vater war beruflich oft monatelang weg, ich kannte es nicht anders." Drei Jahre später folgte ihre Mutter dem Vater, "weil er krank war". Heute vermutet Krista, dass ihre Mutter Angst hatte, ihren Mann zu verlieren.
Mit 13 schon fast auf sich allein gestellt
Die acht Geschwister blieben mit dem Opa zurück im Dorf. Weil der Großvater altersbedingt nicht mehr viele Arbeiten verrichten konnte, blieb fast alles an Krista hängen: Die Kleinen erziehen, kochen, waschen, ernten, Holz hacken, Brot backen und, und, und. Keine Aufgaben für eine 13-Jährige, die dafür auch den Besuch des Gymnasiums aufgeben musste. "Das war schlimm für mich." Sogleich lächelt sie wieder: "Aber der Opa war mir eine große Stütze." Sie erinnert sich an ein Gericht mit Blätterteig, das ihr misslungen war. Der Teig riss und der Opa sagte: "Das macht doch nichts. Im Magen löst sich das sowieso auf."
Mit 15 musste Krista ihre sieben Geschwister versorgen
1964, die Mutter war inzwischen zurück aus Deutschland, bauten die Familien aus Xirolofos das Dorf weiter im Tal, dort, wo der Brunnen war, neu auf. Der beschwerliche Weg zum Frischwasser gehörte damit der Vergangenheit an, auch Elektrizität gab es nun. Der Bauch der Mutter wuchs verdächtig, 1965 wurde das letzte der acht Kinder geboren. Das Baby war 40 Tage alt, da verließ die Mutter die Familie und ging wieder zum Arbeiten nach Deutschland. Fortan war Krista, inzwischen 15 Jahre alt, für ihre Geschwister verantwortlich. "Nachts schrie meine kleine Schwester. Und weil ich so erschöpft war, wickelte ich ein Stück Zucker in ein Tuch und gab es ihr zum Nuckeln", erinnert sie sich.
Schon als Neunjährige als Hausmädchen gearbeitet
Wie schafft es ein 15-jähriges Mädchen, so erwachsen zu sein? "Das war ich schon viel früher, als meine Eltern mich im Alter von neun Jahren in eine wohlhabende Familie nach Athen schickten, 500 Kilometer von zu Hause entfernt", sagt sie. Unter der Maßgabe, dies sei ein Schritt hin zu einem besseren Leben, musste die Neunjährige dort als Hausmädchen arbeiten und sich um die verwirrte Großmutter der Familie kümmern. In ihrer Verzweiflung floh Krista, wurde aber von der Polizei aufgelesen und zurück gebracht. Briefe an die Mutter kamen nie an und erst, als ihr Vater sie in der Familie besuchte und sah, dass seine Tochter ihr Essen nicht mit der Familie am Tisch, sondern im Nebenraum einnehmen musste, machte er der Sache ein Ende und setzte seine Tochter alleine in den Bus gen Heimat.
Nach dieser Erfahrung war es kein großer Schock für Krista, als ihre Mutter die Kinder in Griechenland allein ließ. "Ich wusste, was zu tun war. Das hatte ich alles schon gelernt." 1966 starb der geliebte Opa, die letzte Stütze für die Teenagerin.
1969 folgte Krista ihren Eltern nach Deutschland
Drei Jahre später folgten Krista und ihre ein Jahr jüngere Schwester den Eltern nach Deutschland, um ebenfalls als Gastarbeiterinnen das Familieneinkommen aufzustocken. Beim Gedanken an die ersten Monate in Velbert werden ihre Augen feucht. "Der Anfang war schrecklich", sagt sie. Alles fremd, ohne Sprachkenntnisse, dafür Schnee und technischer Fortschritt wie zum Beispiel eine Waschmaschine - für die Griechin war es ein Kulturschock. Integrations- und Sprachkurse gab es nicht, ihre Deutschkenntnisse erwarb sie eigenständig durch Zeitunglesen.
1972 heiratete sie Norbert
Nach einem Jahr lief ihr Arbeitsvertrag aus, sie fand eine neue Anstellung in einer metallverarbeitenden Firma - und wenig später ihre große Liebe. 1972 waren Norbert und Kristallo das erste deutsch-griechische Paar, das am Standesamt Velbert getraut wurde, hieß es dort. Die Pläne, nach fünf Jahren zurückzukehren nach Griechenland, waren damit schnell vergessen.
Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt: Tochter Ramona erblickte 1974 das Licht der Welt, Krista blieb bis zur Rente in dem Velberter Unternehmen und ist mittlerweile seit 52 Jahren verheiratet. "In Deutschland bin ich tief verwurzelt", sagt sie. Etwas nachdenklich fügt sie hinzu: "Auch wenn ich hier immer ,die Griechin' und in Griechenland immer ,die Deutsche' bin."
Eure Geschichten
Seid ihr auch als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen? Oder eure Eltern? Habt ihr Lust, uns eure Geschichte zu erzählen? Dann meldet euch per Mail an service-lokalkompass@funkemedien.de
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