Schnadegang Schicht 24
Warum rappelt mein Wecker? Es ist doch Samstag! Ach ja, Schnadegang des Schichts 24!
So trafen wir uns am Samstag früh um zehn am Holzener Weg auf der Treppe von Wyrwichs Haus; weil die ev. Kirche ihr Gotteshaus kürzlich abreißen ließ, konnte unser Treffen auf der Kichentreppe nicht zur Tradition werden. Himmlische Tradition bot uns aber der wolkenverhangene Himmel dessen vereinzltes Tröpfeln mich ganz traditionell den Regenschirm mitzunehmen veranlasste und ein wärmendes Wams anziehen ließ.
Auf Wyrwichs Stufen wurden von unserer Schichtmeisterin Ursel als erstes oder zweites Frühstück Brötchen, Saft und Landjäger gereicht. Ich muss gestehen, obwohl das eher gegen mich spricht, Würstchen am Morgen liegen mir nicht; so griff ich nur beherzt beim Schnäppsken zu ...
Solchermaßen erwärmt nahmen wir unseren Rundgang auf, der uns über Kreuzstraße und Feldstraße zunächst zum Klusenweg führte, wo von den Teilnehmern eifrig der Stoffwechsel vollzogen wurde; während die einen das Ende des gleichnamigen chemisch biologischen Prozesses in den Druckkammern und Trichterstuben der Nachbarschaft zelebrierten, wechselten die anderen ihre dicken Textilien gegen dünne.
Weiter führte uns der Weg durch Sonnenstraße und Bohlgarten auf jenen geheimen Pfad zwischen Esso-Tankstelle und Hundhausen, wo man als Romatiker bemerken muss: wie schön, dass überall was wächst - sogar auf ehemaligen Tankanlagen und Schrottablageplätzen der heimischen Industrie!
Wir verließen unser Schicht durch den Bahnhofstunnel in Richtung Ruhr, was Gelegenheit bot, auf dem Weg durch die Innenstadt quasi im Vorbeigehen allerlei Besorgungen zu machen.
In der Vereinsgaststätte des Kanusportvereins trafen alle Teilnehmer ermattet am gedeckten Tisch ein, freuten sich über das Speisenangebot, wobei Salate und Erbseneintopf den massivsten Zuspruch fanden.
Frisch gestärkt zogen wir weiter zur nahegelegenen Senfmühle, wo uns Inhaber Herr Peisert nahebrachte, warum sein Senf, der noch in Werkstattfertigung und bei Bedarf nach Kundenspezifikation produziert wird, nicht nur besser schmeckt, sondern auf den Fettstoffwechsel auch besser wirkt, als die heute üblichen Industriefsenfe.
Herstellung im Detail: braune und gelbe Senfkörner/Senfsaat aus Holland, Tschechien und Kanada importieren, weil Deutsche Bauern lieber Raps als Senf anbauen - schroten - Weinessig, Meersalz und Ruhrwasser dazu - 24 Stunden meischen - 3 ½ Stunden mit 60 U/Min zwischen den je 450 kg schweren, hintereinander liegenden Mühlsteinen aus dem Jahr 1935, deren Profilierung von Zeit zu Zeit händisch nachgemeißelt wird, mahlen - aktuell 20, bis Weihnachten 24 Geschmacksrichtungen mit Honig, Rübenkraut, Knoblauch, Bier, Rotwein, Weiswein, Tomatenmark, Thymian, Adrian?!?, Chilli, Curry, Dill, Preiselbeeren, Estragon, Pflaume, Pfeffer, Kräutern, ganzen und geschroteten Senfkörnern abschmecken - fertig!
Herr Peisert berichtet noch von der wirtschaftlichen Bedeutung des Senfes; so gab es 1960 noch 70 Kleinstbetriebe wie seinen in Westfalen. In jener Zeit hat allein Wilhelm Adrian 600 Liter Senf pro Tag produziert, da der Senfkonsum in der Vorketchupzeit deutlich höher war - bei den ausgemergelten (nicht ausgemerkelten) Menschen der Kriegsgenerationen standen fette Speisen hoch im Kurs und Senf befeuert den Fettstoffwechsel. Sogar religiöse Hintergründe sorgten für Bedarf; damals war Meeresgetier ein Armeleuteessen und Mutter brachte manchen Tag, und freitags ganz besonders, Senfsoße und Fisch auf den Tisch.
Auch Wilhelms Sohn Wilhelm konnte noch vom Senf leben, während Enkel Werner die Sache nur noch hobbymäßig (160 Liter je Monat) betrieb. Beim Versuch den eigenen Senfbedarf zu decken, musste der Maschinenbaustudent Frank Peisert um Weihnachten 1999 die komplette Produktionsanlage mitkaufen - und ist dadurch Teil der Schwerter Historie geworden; nach der Wilhelminischen Phase der Bedarfsdeckung machte Frank Peisert aus dem Adrian Senf einen wernermäßigen Kultartikel in Schwerte und Umgebung.
Mehr als 100 Verkaufsstellen sorgen dafür, dass die Ausbringungsmenge jetzt bei 160 Liter an jedem zweiten Tag liegt (darüber was an den ungraden Tagen geschieht erfuhren wir nichts). Eine Senffabrik erzeugt am Tag soviel wie Peisert im Jahr - klar, dass bei solchem Tempo manches heißläuft und Wirkstoffe geradezu verbrennen; die Industrie repariert den Geschmack zwar mit allerlei Gewürz, manche gesundheitsfördernde Wirkung bleibt aber auf der Strecke. Dafür ist das Zeug eben billig ...
Auch wir deckten unseren Senfbedarf im Mühlenverkauf (ohne eine Mühle zu kaufen) und freuten uns über ein Wiedersehen mit Hofrat Bährens alias Chris Wartenberg - auch ein bedeutender Teil der Schwerter Historie - aber darüber habe ich schon genug geschrieben.
Um nicht auszuufern begnüge ich mich damit, dass wir uns satt und zufrieden voneinander verabschiedeten und danken Ursel für einen Schnadegang der diesmal nicht den Friedhof zum Mittelpunkt hatte, sondern das pralle Leben am Wasser und den Stoffwechsel als Schwerpunkt.
Autor:Sabine Totzauer aus Schwerte |
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