"Lieber Stiftsdame als Jungfer"

Gruppenbild mit damen: Prof. Dr. Gerhard E. Sollbach vor den in Sandstein gemeißelten Damen Frederuna (Stiftsgründerin) und Alswedis (erste Äbtissin).
  • Gruppenbild mit damen: Prof. Dr. Gerhard E. Sollbach vor den in Sandstein gemeißelten Damen Frederuna (Stiftsgründerin) und Alswedis (erste Äbtissin).
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„Hier, wo wir unseren Spaziergang starten, liegt auch der Beginn von Herdecke.“ Prof. Dr. Gerhard E. Sollbach steht auf dem Stiftshügel neben der Stiftskirche St. Marien und spricht über das Damenstift in Herdecke, den „Kern der späteren Stadt.“
„Wer immer sich das ausgedacht hat - das war eine gute Idee“, erklärt Sollbach. Denn hier auf dem Hügel war man vor dem Ruhrhochwasser geschützt und lag zudem an einem großen Verkehrsknotenpunkt. Und wann entstanden nun das
Stift und die Kirche? „Das ist die Frage“, grinst Sollbach. „Wir haben keine Gründungsurkunde oder sonstige Quellen.“ Das gilt sowohl für das Stift wie auch für die Kirche. Die erste urkundliche Nachricht von der Existenz des Frauenkonvents findet sich in den zwischen 1183 und 1187 aufgezeichneten Wundergeschichten des Heiligen und Erzbischofs Arno von Köln. Die Kirche wurde vermutlich zwischen dem frühen 9. und späten 11. Jahrhundert errichtet. Und was ist mit Frederuna, der Stiftsgründerin und angeblichen „Schwestertochter“ (Nichte) Karls des Großen? „Das taucht erstmals in einer Aufzeichnung aus dem 15. Jahrhundert auf“, erzählt Sollbach. „Das hatte natürlich etwas mit Renommee zu tun. Das hat man etwas hochgepuscht. Karl der Große als Stiftsgründer wäre allerdings wohl des Guten zu viel gewesen.“ Wir stehen vor der Nordwand der Stiftskirche und Sollbach weist auf einen zugemauerten Rundbogen: „Anfang des 13. Jahrhunderts errichtete man hier einen zweigeschossigen Anbau mit einem gut zwei Meter hohen Giebel, die so genannte Eulenflucht. Im Obergeschoss gab eine ursprünglich wohl doppelte Rundbogenöffnung den Blick zum Chor der Kirche frei. Dieses Obergeschoss ermöglichte einen direkten und wettergestützten Zugang zur Abtei und diente wohl als privater Gebetsraum der Äbtissin, von wo sie auch dem Gottesdienst beiwohnen konnte.“ Die Lebensgrundlage des Stifts war der landwirtschaftliche Betrieb. Das Stift erhielt Ländereien als Schenkungen, die sie dann an die Bauern zur Bewirtschaftung
abgab. Das Stift lebte dann von den Abgaben der Bauern. Ferner unterhielt man eine eigene Bäckerei und eine Brauerei. „Meist lebten hier so rund zwölf, 13 Stiftsdamen, höchstens zwanzig. Die Äbtissin war das geistliche Oberhaupt der Gemeinschaft, der Stiftsamtmann kümmerte sich um die weltlichen Geschäfte.“
„Hier können sie noch schön den geschlossenen Bereich des
Stifts erkennen“, erzählt Sollbach, während wir von der Kirche zum Stiftsplatz gehen. „Das war ja früher von einer Mauer umgeben“. Das Eingangstor lag
ungefähr in der Höhe von Haus Pfingsten. Wir sind mittlerweile
auf dem Stiftsplatz angekommen und stehen nun vor dem Zwei-Schwerter-Haus, welches heutedas Trauzimmer der Stadt beherbergt. „Spätestens im 16. Jahrhundert konnten sich die Stiftsdamen eigene Haushaltungen bauen“, erzählt Sollbach. So wie das heutige Standesamt, das sich die adelige Dame Hermine Josine v. Diepenbrock in den 1780er Jahren errichten ließ. „Warum sie das Haus hier bauen ließ, ist mir ein Rätsel, Die Dame hat hier nämlich nie
gewohnt. Vielleicht war das so eine Art Investition.“ Aber vielleicht hatte sie auch inzwischen geheiratet, galt zu jener Zeit doch das Motto Lieber Stiftsdame als Jungfer: „Vielfach war es nicht ein besonders frommer Sinn, sondern wirtschaftliche Not, die unverheiratete und unverheiratbare Adelstöchter damals in die Stifte trieb“, so Sollbach. Denn in jener Zeit hatte eine Tochter aus adeligem Hause nur dann eine Aussicht auf eine standesgemäße Hochzeit, wenn sie eine entsprechende Mitgift einbrachte. Sollbach zitiert ein
Schreiben des Amtmanns Johann von der Reck aus Unna, der sich im Jahr 1542 an Herzog Wilhelm V. mit der Bitte wandte, in Anbetracht seiner großen
Zahl von 19 Kindern und seiner geringen Besitztümer einer seiner Töchter eine Stiftsstelle zu verschaffen. Wir lenken unsere Schritte nun zum Platz vor dem Rathaus, wo mir Professor Sollbach lächelnd erklärt: „Hier fand einmal im Jahr eine Sauerei statt.“ Wir reden natürlich nicht von der Politik, sondern von dem so genannten „Einwahrungstag“, an dem im Herbst vor der Eichelmast alle Schweine aus der Herdecker Mark auf den Platz vor dem Abteigebäude (wo heute das Rathaus steht) getrieben wurden und dort Brandzeichen erhielten. Im Jahr 1519 waren das laut einer historischen Aufzeichnung 312 Schweine, dazu kamen rund 20 Küchenschweine des Stifts. „Stellen Sie sich einmal vor, was hier für ein Gequieke geherrscht haben muss!“ Gerade das macht für Professor Sollbach, der spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichte an der Universität Dortmund lehrt und viel zur Regionalgeschichte publiziert hat, die Faszination der Lokalgeschichte aus: „Mit solchen Beispielen aus der Lokalhistorie wird Geschichte konkret und lebendig.“
Unser Rundgang endet schräg hinter dem heutigen Heimatmuseum, am Grabmal der letzten Äbtissin, Wilhelmine Anna Catharina von Blomberg. Sie wurde nach Auflösung des Stifts zum 1. Januar 1812 fast ein Sozialfall: Sie hatte weder eine Bleibe noch genügend Geld für ihren Unterhalt. Vielleicht wegen dieser Sorgen starb sie bereits drei Monate später. Die Zeit der Stiftsdamen in Herdecke war endgültig vorüber.

Autor:

Jens Holsteg aus Herdecke

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