Die Toten der Seine

Es sind ihre letzten Aussagen: Aus den Akten eines Pariser Leichenschauhauses entwirft der Historiker Richard Cobb ein faszinierendes Puzzle der Alltagsgeschichte aus der Zeit der französischen Revolution.
Über die Revolutionszeit ist viel geschrieben worden, doch wir wissen erstaunlich wenig über die große Mehrheit der Menschen, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Paris lebten. Ihr Leben fand keinen Weg in die großen Geschichtsbücher, das Revolutionsdrama spielte nicht in den Armenhäusern der Stadt, in den Wohnungen kleiner Tagelöhner oder Handwerker und nicht in den eng begrenzten Quartieren ihres Lebensumfelds. Diese Menschen lebten ihr Leben, weitab von der Weltgeschichte, wie wir sie aus dem Geschichtsunterricht kennen. Wie lebten diese Menschen? Wie hart war ihr Alltag? Hatten sie Träume? Die Schwierigkeit, eine solche „Alltagsgeschichte“ vorzulegen liegt darin, dass kaum schriftliche Zeugnisse vorliegen. Tagebücher und Briefe waren in der Regel Ausdrucksmittel höherer Schichten. Daher müssen Historiker auf andere Quellen, etwa Prozessberichte, zurückgreifen. Richard Cobb, der 1996 gestorbene britische Historiker, machte eine andere Entdeckung: Er fand in einem Pariser Archiv die Akten der „Basse Geole“, des Leichenschauhauses an der Seine, das Autopsieprotokolle aus den Jahren 1795 bis 1801 enthielt. Diese Akten beschreiben die Todesumstände, das Alter, das Geschlecht, die Kleidung und weitere Einzelheiten von über 400 Menschen, die tot aus der Seine geborgen wurden. Anhand dieser Einträge entfaltet Cobb ein faszinierendes Pariser Alltagspanorama des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Die meisten Toten entstammen den unteren Schichten, die meisten sind Selbstmörder, die ihren drückenden Lebensverhältnissen nicht länger standhalten konnten. Dem Leser begegnen Berufe der vorindustriellen Epoche wie „Garköche, Fuhrleute, Wasserträger und Laufburschen.“ Cobb erzählt von einem Leben in vorgefertigten Bahnen, das von der Weltgeschichte unberührt bleibt: „Familienbande, Heirat, gemeinsame Wurzeln in der Provinz oder im selben Viertel von Paris und in Familientradition ausgeübte Berufe erhalten und verstärken ihre Immobilität.“ Es ist ein Leben auf engsten Bahnen, wie Cobb immer wieder hervorhebt. Es waren Menschen, „die im August zusammen schwitzten, im Januar gemeinsam zitterten, in unmittelbarer und unbequemer Nähe zueinander lebten, sich fortpflanzten und starben, wo sich nichts verbergen ließ und alles mitgehört wurde, wo aber nichts und niemand gleichgültig war.“
Dieses 1978 erschienene, und nun erstmals auf Deutsch vorliegende, kriminalistische Puzzle ist ein Muss für jeden Geschichtsfan, ein einfühlsam geschriebener „Archivbericht“ und schlicht: ein Meisterwerk.
Richard Cobb / Tod in Paris – Die Leichen der Seine/ 196 Seiten / Klett Cotta Verlag

Autor:

Jens Holsteg aus Herdecke

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