AIDS ist auch nicht mehr das, was es mal war
Gedanken nach 35 Jahren als Erzieher

einen Monat, bevor ich meinen ersten Arbeitstag hatte. 
Abschlussklasse in der Bruchtorschule in Hattingen.

In der Klasse wusste niemand Bescheid. Dachte ich zumindest.
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  • einen Monat, bevor ich meinen ersten Arbeitstag hatte.
    Abschlussklasse in der Bruchtorschule in Hattingen.

    In der Klasse wusste niemand Bescheid. Dachte ich zumindest.
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Tja Schätzchen, wenn Du so weiter machst, dann liegst Du bald genau so hier

Heute auf den Tag genau ist es 35 Jahre her, dass ich meinen ersten Arbeitstag als "Vorpraktikant" im Kindergarten hatte. Ich wollte Erzieher werden. Und hier, im evangelischen Kindergarten Welper sollte mein Start in dieses neue und aufregende Berufsleben stattfinden. Mit "süßen" 17 einerseits ein ganz schönes "Luder". Oder wie man in manchen Kreisen so sagt "Wanderpokal", andererseits voll mit Zweifeln, Naivität und Ängsten.

Zum einen gab es 1984 noch diesen unsäglichen Paragraphen 175, der es Jugendlichen nicht leichter machte, seinen Weg als Schwuler zu finden -  zum anderen befand sich  diese "Seuche" AIDS (oder Schwulenkrebs, wie wir das nannten) auf einem traurigen Höhepunkt. Viele meiner Freunde erkrankten und starben. Und alle vor allem deswegen, weil es niemanden gab, der sie gewarnt hätte, der sie aufgeklärt hätte. Und wer sollte einen als nicht geouteten Schwulen in den Arm nehmen wollen, ohne Angst davor zu haben, in einen schlechten Ruf zu kommen? Lehrer? Erzieher? Eltern?
Trotzdem war es ein Tag, dem eine ganz bewusste Entscheidung vorausgegangen ist. Diese wiederum eine Folge meines damaligen Lebenswandels, als (allerdings) geouteten Schwulen.

Es war der Schwur, den ich meinem damaligen Freund, meiner ersten oder zweiten (oder der dritten?) großen Liebe am Sterbebett gegeben habe:
Niemand sollte sich mehr anstecken, keiner erkranken und sterben müssen, schon gar nicht alleine, weil alle nur da standen, wie Kaninchen vor der Schlange und keinem wirklich sinnvolle Antworten einfielen. Rita Süßmuth war noch nicht so weit und selbst der Arzt im Krankenhaus, dem ich sein Schwulsein an der Nasenspitze ansah, wusste auf meine dringendsten Fragen keine klügere Antwort als: "Tja Schätzchen, wenn Du so weiter machst, dann liegst Du bald genau so hier."
Das alles ist lange her. Und es berührt mich trotzdem noch. Gerade beim Tippen bläddere ich schon wieder los...

Ja, aber es ist lange her. Und ich habe das Beste daraus gemacht:

"AIDS ist auch nicht mehr das, was es mal war".

Das wir diesen Satz heute sagen können, hätte vor 35 Jahren niemand gedacht.
Das war die Zeit, in der ich eben nicht nur Erzieher wurde, sondern zeitgleich der Tag, an dem mein Engagement für die AIDS-Hilfe begann.

"Bald sind sie sowieso tot", dachte ich noch, als ich 1984 im Juni die Schule verließ und als zahlreiche Freund*innen von mir nach und nach an den Folgen von AIDS gestorben sind.
Ich ahnte, dass dieses Sterben etwas mit dem Leben, das wir zu dieser Zeit lebten, zu tun hatte. Irgendwas mit Sex, irgendwas mit meinem Schwulsein. Ich hatte Angst. Aber Antworten auf meine drängenden Fragen fand ich nirgendwo, nicht bei meinen Lehrer*innen, nicht bei Mitschülern, die sich verlegen grinsend weg drehten, nicht bei Eltern, nicht bei Ärzten oder gar der Politik.
Auf der Suche nach Antworten traf ich neue Freund*innen und Mitstreiter*innen und die Gründung erster AIDS-Hilfen im Ruhrgebiet folgte.
Der Wunsch, an der Aufklärung mitzuwirken und an der aktuellen Situation etwas für mich und meine Freunde zu verändern wurde mir zu einer Lebensaufgabe. Ich wurde Erzieher, dann Lehrer für Erwachsenenbildung und bin heute Mentor für Sozial- und Gesundheitsfragen und seit mehr als 25 Jahren für die Hagener AIDS-Hilfe als "Hauptamtler" tätig.
Heute bin ich es, der versucht Antworten zu geben und so zu verhindern, dass sich Menschen allein aus Unwissenheit mit HIV oder anderen sexuell übertragbaren Infektionen anstecken. Als Youthworker kläre ich daher schwerpunktmäßig Jugendliche und ihre Erzieher*innen, Lehrer*innen und Eltern auf.
Die Arbeit hat sich verändert. Das alte AIDS damals hat Menschen stigmatisiert und getötet. Heute muss das nicht mehr sein. Die Menschen haben gelernt, damit umzugehen und auch, sich vor Ansteckungen zu schützen. Vielleicht habe auch ich einen Anteil daran gehabt. Vielleicht sind der eine oder andere Gast dieser Seite und ich uns auch schon mal begegnet. Ich habe nichts gegen ein Wiedersehen.
Heute bin ich auch noch in Schulen und Jugendeinrichtungen aktiv. Aber auch online und in den sozialen Medien. Heute rede ich auch nicht mehr soviel über Kondome. Klar, die schützen auch heute noch. Aber Aufklärung hat sich verändert und muss auch Menschen erreichen, die bereits infiziert sind. Aufklärung bedeutet nicht nur Schutz vor Krankheiten, sondern auch Antidiskriminierung, Solidarität und die Erkenntnis, dass Safer Sex und Gesundheit mehr sind, als die Abwesenheit von Krankheit und auch mehr, als die Verwendung von Kondomen. Und nicht zuletzt gibt es mittlerweile "Safer Sex 3.0" Schutz im Zeichen von PrEP. Alles fügt sich ineinander und genau so will ich HIV und sexuelle Gesundheit auch heute vermitteln. Genauso verstehe ich meinen Beruf heute.

Und insofern war der 13. August, der 1984 wohl ein Montag gewesen war und an dem ich mit Herzklopfen und schweißnassen Händen vor der Tür zu meinem Gruppenraum mit 25 Kindern stand und mir vor Aufregung fast in die Hose machte - dieser "Dreizehnte", an dem ich darüber sinnierte, ob die 13 nicht eigentlich eine Unglückszahl war..... Diese 13 hat mir Glück gebracht.

Autor:

Andreas Rau aus Hagen

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