Über Saufen spricht man nicht
Der Vater ging einer geregelten Arbeit nach. Jeden Feierabend trank er Bier und Schnaps, manchmal bis zum Umfallen. Schließlich hatte er hart gearbeitet. Die Mutter ging putzen und trank auch schon mal mit. Die Tochter, heute eine erwachsene Frau, kümmerte sich um ihre Geschwister und musste schon als Zehnjährige zum Putzen mitkommen. Über die Sucht des Vaters kann sie erst heute reden.
Scham, Angst und der Gedanke, bloß nicht aufzufallen, bestimmten das Leben der Hattingerin, die nicht erkannt werden will. Unauffällig leben und die Aggression das Vaters, wenn dieser mal wieder betrunken war, zugunsten der jüngeren Geschwister abfangen – und das über viele Jahre. „Freundinnen hatte ich keine und auch sonst niemanden, mit dem ich reden konnte. Ich habe nie jemanden zu uns nach Hause eingeladen.“
Heute ist sie sicher: neben ihrer Mutter wussten auch die Großeltern Bescheid, vielleicht sogar Nachbarn. Aber „man redete nicht darüber“.
Stattdessen futterte sie viel, „fraß die Sorgen quasi in sich hinein“. Sie schloss ihre Schule ab, machte eine Ausbildung, wurde Bankkauffrau. Und sie wurde kaufsüchtig. Kaufte in Geschäften und im Katalog, schloss die gekauften Sachen in Schränke ein, packte vieles nicht einmal aus. Machte Schulden.
Sie heiratete und bekam zwei Kinder. Die Familie ist ihr ein und alles. „Mein Mann hat selbst gemerkt, dass mit mir etwas nicht stimmt“, sagt sie. Mit ihm kann sie reden, mit ihren Kindern auch. Mit Argusaugen wacht sie über das Thema Alkohol. Sie selbst trinkt nichts, ihr Mann ab und zu ein Bier. Auch die Kinder sind meistens zurückhaltend. Im eigenen Haus gibt es nur Bier und Wein, keinen Schnaps. Beim Feiern fährt sie nach dem Abendessen nach Hause. Sie kann den Geruch des Alkohols nicht ertragen. „Die anderen saufen und ich habe am nächsten Tag die Migräne“, sagt sie. Einmal habe ihr Sohn „sich die Kante gegeben“, mit dem habe sie am nächsten Tag aber Tacheles geredet – und die alte Angst kam mit dem Alkohol wieder hoch.
In der Zwischenzeit ist ihr Vater verstorben, ihre Mutter lebt noch. „Meine Mutter hat nach dem Tod meines Vaters den ganzen Schnaps weggeschüttet. Geredet haben wir darüber nie. Trotzdem bleibt er mein Papa“, sagt sie. Hass empfindet sie nicht.
Sie ist froh, dass sie jetzt endlich reden kann. „Ich brauchte fremde Hilfe, sonst wäre ich kaputt gegangen“. Hilfe, die sie im Suchtzentrum der Caritas bekam. Dort gibt es eine Gruppe für „Erwachsene Kinder von Suchtkranken“, Und weil es nur diese eine Gruppe gibt, kommen die Teilnehmer aus dem ganzen Ruhrgebiet.
Nach einem vorbereitenden Seminar treffen sich die Teilnehmer an verschiedenen Abenden und können endlich das aussprechen, was sie oft seit Jahrzehnten mit sich herumschleppen. Wer will, kann nach den Abenden, die von Diplom-Sozialarbeiterin Annette Mohrbach geleitet werden, in eine Selbsthilfegruppe wechseln.
Endlich hat die Hattingerin hier auch zwei Freundinnen gefunden. „Ich bin glücklich“, sagt sie.
Aktuell leben etwa 2,7 Millionen Kinder in einer suchtbelasteten Familie. Viele von ihnen haben ein erhöhtes Risiko, selbst zu Suchtmitteln zu greifen oder auf andere Art zu erkranken. „Wichtig ist es, eine Bezugsperson zu haben, mit der man reden kann“, so Branko Wositsch, Leiter des Caritas-Suchthilfezentrums. „Man braucht eine Person, zu der man Vertrauen aufbauen kann. Nur dann hat man die Chance, dem Teufelskreis zu entrinnen“. Das aber setzt voraus, auch hin- und nicht wegzusehen.
Hilfe gibt es im Caritas-Suchthilfezentrum, Heggerstraße 11, Telefon 92560, Herr Meier.
Autor:Dr. Anja Pielorz aus Hattingen |
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