Serie über Integration: „Wenn wir in der Türkei sind, haben wir Heimweh“

Vor genau 40 Jahren kam der heute 60jährige Isa Çöloglu aus der Türkei nach Deutschland. Seine Frau Fatma (56) kam vier Jahre später nach. Inzwischen haben sie fünf Kinder und fühlen sich wohl und gut integriert in Hattingen. Auf dem Foto links Tochter Rabia (22) und rechts Sohn Erkan (33), Vorsitzender des Integrationsrats.  Foto: Kamphorst
  • Vor genau 40 Jahren kam der heute 60jährige Isa Çöloglu aus der Türkei nach Deutschland. Seine Frau Fatma (56) kam vier Jahre später nach. Inzwischen haben sie fünf Kinder und fühlen sich wohl und gut integriert in Hattingen. Auf dem Foto links Tochter Rabia (22) und rechts Sohn Erkan (33), Vorsitzender des Integrationsrats. Foto: Kamphorst
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(von Cay Kamphorst)

Der 60jährige Isa Çöloglu kam über viele schwierige Umwege aus einem kleinen Dorf in der Türkei nach Hattingen und fühlt sich sehr wohl hier.
Er erzählt gerne von seiner Odyssee, die ihn letztlich nach Hattingen führte. „Ich weiß es noch ganz genau, am 23. Mai 1971 kam ich nach Deutschland, also vor genau 40 Jahren.“

Einfach war es nicht, im fremden Land. „Die ersten zwei Jahre waren ganz schlimm ohne Sprache. Ich konnte ja nicht einmal problemlos einkaufen. Eines der ersten Wörter, die wir als Moslem lernten, war ‚Schweinefleisch‘ in Wort und Schrift. Ansonsten mussten wir uns mit Händen, Füßen und Geräuschen verständigen“, schmunzelt Isa Çöloglu. „Heute können wir darüber lachen, aber damals war es ein sehr schlimmes Gefühl. Zum Beispiel wollte ein Bekannter Pferdefleisch kaufen. Zur Erklärung wieherte er und scharrte mit den Füßen.“
Seine 56jährige Frau Fatma erzählt: „Ich wusste ja nicht was ‚Tomate‘ oder ‚Gurke‘ auf deutsch heißt. Also nahm ich immer ein Wörterbuch zur Hand und lernte zu Hause auswendig, was ich hinterher kaufen wollte. Manche Sachen gab es damals auch noch gar nicht hier – beispielsweise Wassermelonen oder Auberginen.“
Isa Çöloglu kam als Tourist und besuchte seinen Onkel in Frankfurt. Viele Türken wählten damals diesen Weg, wenn sie nicht direkt von deutschen Firmen angeworben worden waren.
„Arbeit gab es in Deutschland problemlos. Ich wollte ja hier arbeiten und bekam einen Dreimonatsvertrag bei Neckermann in der Versandabteilung. Der wurde dann auf sechs Monate und danach auf zwölf Monate verlängert.“
Kurz bevor der Arbeitsvertrag auslief, hieß es seitens der Geschäftsführung allerdings, er und viele seiner Kollegen müssten zurück in die Türkei.
Die unangenehme Nachricht verhieß Gutes. „Wir sollten in die Türkei fahren und dann mit einem gültigen offiziellem Arbeitsvertrag wieder zurückkommen.“
In der Türkei musste er erst einmal zur Voruntersuchung. Wer damals in Deutschland arbeiten wollte, musste sich einer unangenehmen, ärztlichen Untersuchung stellen.
„Das waren deutsche Ärzte, die extra nach Istanbul kamen. Wir mussten uns ausziehen und wurden komplett durchgesehen, selbst in den Mund wurde uns geschaut“, erzählt der 60jährige Türke. „Aber ich habe da gar nicht weiter drüber nachgedacht, weil ich so froh über den Arbeitsvertrag war und dass ich in Deutschland arbeiten durfte. Dafür hätte ich alles gemacht“, beschreibt er seine Gefühle. „Mein Heimatdorf liegt 900 Kilometer von Istanbul entfernt. Extra für die Untersuchung fuhr ich mit dem Bus hin und danach auch wieder zurück. Ich musste 45 Tage warten, bis endlich der Brief vom Arbeitsamt aus Istanbul kam mit dem Ticket nach Deutschland.“
Ein besonderer Moment für ihn, denn es „schafften längst nicht alle“ die Untersuchung zu bestehen. „Selbst eine Erkältung, ein Schnupfen oder Husten war schon ein Ausschlusskriterium.“
Mit dem ersehnten Ticket und dem Arbeitsvertrag in der Tasche machte sich der damals 20jährige mit dem Zug auf den Weg nach Deutschland. „Wir hatten ein Abteil mit sechs Betten und bekamen türkisches Essen, das in Istanbul eingeladen wurde.“
In Deutschland gab es die erste Konfrontation mit der anderen Kultur. Eine beliebte Anekdote, über die immer wieder gerne gelacht wird: „Als wir ankamen, erhielten wir von den Deutschen jeder eine Tüte mit zwei belegten Brötchen, einem trockenen Brötchen und einer Wurst geschenkt. Da wir aber alle nicht wussten, was in der Wurst drin war, warf sie ausnahmslos jeder weg, so dass die ganzen Mülleimer am Bahnhof überfüllt waren mit Fleischwürsten“, lacht Isa Çöloglu.
Die Regel war so, dass die anwerbende deutsche Firma ihre Mitarbeiter direkt am Bahnhof abholte. „Aber das brauchte ich nicht. Weil ich ja schon deutsch konnte, bin ich allein zum Neckermann-Versandhaus gefahren.“
Diesmal erhielt er eine Anstellung in der Möbelabteilung, was ihm aber nicht so zusagte. „Also habe ich gekündigt und kam bei Verwandten in Heidelberg unter.“ Dort fand er eine Anstellung im Bereich Druckmaschinen. „Natürlich erst nach einer Untersuchung. Wir wurden ja ständig untersucht, um einen Arbeitsvertrag zu bekommen.“
Isa Çöloglus Vater hatte ihm eine Frau ausgeguckt. „Ich stamme aus einem sehr kleinen Dorf. Da kennt jeder jeden. Von daher kannte ich auch Fatma, die mein Vater mir als Ehefrau vorschlug.“
Während seines Heimaturlaubs wurde geheiratet. „Meine Frau durfte aber erst nach einem Jahr Ehe nachkommen. Also ging ich wieder allein zurück nach Deutschland.“
Ein Anruf seines Onkels aus Hattingen sollte dem Leben Isa Çöloglus eine entscheidende Wendung geben. „Er arbeitete auf der Henrichshütte und dort wurden 30 neue Mitarbeiter gesucht.“ Der Anruf kam am Wochenende und am Montag war schon der Bewerbungstag. „Da hatten sich 2.000 Menschen beworben! Und ich habe eine Stelle bekommen“, berichtet der 60jährige stolz. Natürlich erst nach einer gründlichen ärztlichen Untersuchung.
Auf der Hütte blieb er bis zur Schließung 1993 und wechselte dann nach Bochum zu Krupp. „Ich habe viel gemacht in den ganzen Jahren“, erzählt der Türke, der sich im Moment noch in Altersteilzeit befindet. „Nächstes Jahr gehe ich in Rente.“
„Durchs Sprechen mit Kollegen und mithilfe von Büchern hatte ich bereits angefangen, Deutsch zu lernen. In Hattingen besuchte ich dann noch einen Deutschkurs. Als ich dann die Sprache beherrschte, wurde es einfacher für mich.“
Schwierigkeiten ergaben sich trotzdem in der Umgangssprache im Betrieb. „Ein Kollege wollte, dass ich ihm einen ‚Japaner‘ hole. Ich dachte mir, was soll das denn? Wo hole ich den denn her? Aus Japan? Bis ich dann darüber aufgeklärt wurde, dass es eine bestimmte Art einer Schubkarre war, die so benannt wurde.“ Wieder lacht Isa Çöloglu über seine eigene Unwissenheit.
In Hattingen fand er damals eine Wohnung für 59 Mark pro Monat. „Aber so sah die auch aus! Zwei Zimmer und das Klo war draußen in einem kleinen Verschlag“, erzählt Fatma Çöloglu, die dort 1975 einzog. „Ja“, bringt sich ihr Mann lachend ein. „Und es war so eng, dass man die Tür aushängen musste und rückwärts wieder einhängen. Das Klo war aus Holz, das aber schon so morsch war, dass man immer damit rechnen musste, es fällt auseinander und man selbst direkt in die Jauche darunter.“
Konkrete Anfeindungen hat er nicht erlebt. Seine 22jährige Tochter Rabia erzählt aber: „Mir wollten sie in der Schule immer das Kopftuch vom Kopf reißen, was natürlich kein gutes Gefühl war.“ Warum die Kinder das taten, wisse sie nicht. Ihre Mutter hatte Ähnliches erleben müssen. „Die Frauen zeigten mir einen Vogel, weil ich ein Kopftuch trug – auch im Sommer. Da ich kein deutsch sprach, konnte ich ja nicht erklären, dass das mit meinem Glauben zu tun hat.“
Eigentlich wollte Isa Çöloglu in Deutschland arbeiten, sich ein Auto kaufen und zurück in die Türkei. Aber wie das Leben so spielt, kam alles anders. „Jetzt leben unsere fünf Kinder und sechs Enkelkinder hier. Das ist unsere Familie. Sechs Monate im Jahr verbringen meine Frau und ich in der Türkei, aber die Sehnsucht nach Deutschland und der Familie ist dann immer so groß, dass wir zukünftig nur noch vier Monate in der alten Heimat bleiben werden.“
Drei Söhne und zwei Töchter hat das Paar. Die Söhne haben sich einbürgern lassen und damit die türkische Staatsangehörigkeit aufgegeben. Papa Çöloglu sieht darin kein Problem. „Sie sind ja immer noch die gleichen Menschen.“
Außerdem fühlen er und seine Familie sich sehr wohl und heimisch in Deutschland. „Bei uns gibt es ein Sprichwort, das wörtlich übersetzt heißt: Wo ich satt werde, da ist meine Heimat.“

Autor:

Roland Römer aus Hattingen

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