NS-Zeit: Schüler stolpern über menschliche Schicksale

Stolperstein zu Oskar Nagengast an der Bruchstraße
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Am 14. April 2005 beschloss der Haupt- und Finanzausschuss der Stadt Hattingen die Durchführung der Aktion „Stolpersteine" des Kölner Künstlers Gunter Demnig. Die Initiative, an Hattinger Opfer des Nationalsozialismus durch die Verlegung von „Stolpersteinen" zu erinnern, kam aus der Hattinger Bevölkerung. Neunzehn Hattinger Opfer des Nationalsozialismus bedeuten neunzehn erschütternde Schicksale. Ob Hausfrau, Bibelforscher, Klempner, 24-Jähriger, Künstlerin, Jude, Kaufmann, Homosexueller, Fabrikarbeiterin, katholischer Priester, Witwe oder Kind, es konnte jeden treffen. Der Nazi-Terror schlug nicht nur in Auschwitz oder den anderen bekannten Vernichtungslagern zu, sondern fand seine Opfer auch vor der Haustür, bei uns in Hattingen. Auf diesen Spuren spazierten jetzt für ein Projekt anlässlich des gymnasialen Geburtstages (100 Jahre Gymnasium, davon 40 Jahre Holthausen) Schüler des Gymnasiums gemeinsam mit ihrem Lehrer Marco Gergen in Begleitung des Stadtarchivars Thomas Weiß.

Das Projekt heißt „Wegmarken zu Entrechtung und Verfolgung jüdischer Bürger in Hattingen während der NS-Zeit" und wird von Geschichtsschülern und Lehrer Marco Gergen zusammen mit Stadtarchivar Thomas Weiß durchgeführt. Ziel ist es, mit der App Biparcours eine digitale Karte zu den Stolpersteinen und wichtigen Wegmarken jüdischen Lebens in Hattingen zu erstellen. Kurze Informationen zu den Menschen und Orten werden dabei von den Schülern zusammengetragen und in der App gebündelt. Die App soll anschließend der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden und ermöglichen, sich schnell und einfach über Personen und wichtige Orte zum Thema zu informieren. Das Projekt wird auch am 9. November zur Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht in der Gebläsehalle vorgestellt. Bei dem „Stadtspaziergang" zu den wichtigsten Wegmarken im Stadtgebiet erlebten die Schüler Geschichte hautnah. Über die „Stolpersteine“ waren sie nämlich bisher – nach eigenen Aussagen im wahrsten Sinn des Wortes – noch nicht gestolpert.
Die kleinen Messingplatten liegen verteilt im Hattinger Stadtgebiet und waren seinerzeit nicht unumstritten. Während die einen sie als Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus begrüßten, waren sie für andere kein angemessenes Zeichen, trat man damit doch die Opfer buchstäblich mit Füßen. Sogar Wertverluste des eigenen materiellen Besitzes wurden befürchtet, wenn ein „Stolperstein“ vor dem Objekt an die dunkle, teilweise tiefbraune Vergangenheit erinnert. Deshalb gibt Stadtarchivar Thomas Weiß zunächst einen kurzen Überblick über den Nationalsozialismus in Hattingen, bevor es zu einzelnen Stolpersteinen geht. „Neben Hitler und Goebbels, die Hattingen schon 1926 besuchten, waren es Hattinger wie Wilhelm Schepmann, die ihre Stadt zu einer der Hochburgen der Nationalsozialisten im Ruhrgebiet machten“, so Weiß. Über Schepmann hat der STADTSPIEGEL in seiner Serie „Wir sind Hattinger“ ausführlich berichtet. Zu seinem 50. Geburtstag erhielt er von der Parteiführung 100.000 Reichsmark geschenkt. Schepmann trat 1925 unter der Mitgliednummer 26762 in die NSDAP ein. Er organisierte zusammen mit Viktor Lutze den Aufbau der SA im Ruhrgebiet; bereits 1928 war er Parteiredner. Gleichzeitig arbeitete er als NSDAP-Stadtverordneter und als SA-Führer. Mit schweren Stiefeln und braunen Hemden trampelte die „Sturmabteilung“ (SA) durch Hattingen. Von 1932 bis 1933 war Schepmann Mitglied des Preußischen Landtages und ab November 1933 Mitglied des Reichstages.

Bislang auf die Stolpersteine nicht geachtet

Dann geht es zum ersten Stolperstein in der Bruchstraße – ein Stolperstein für jemanden, der Opfer und Täter war. Denn Oskar Nagengast war Mitglied der SA und Nationalsozialist. Er war verheiratet, hatte drei Kinder – und er war homosexuell. Ob die Ehe möglicherweise zum Schein geschlossen wurde, lässt sich aus den Akten nicht genau erkennen. Seine Homosexualität jedenfalls war mehr als unerwünscht. Seine Frau, so berichteten später die Kinder übereinstimmend, hat von den Neigungen ihres Mannes gewusst, damit aber offensichtlich keine Probleme gehabt. Ganz anders die Ideologie jener Zeit. Der § 175 StGB existierte seit 1872 und stellte sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe. Der Hüttenarbeiter Oskar Nagengast wurde verhaftet, weil er Unzucht mit unter 21jährigen getrieben hat – vermutlich wurde er denunziert. Er verbüßte eine Gefängnisstrafe und wurde danach sofort von der Gestapo in „Schutzhaft“ genommen. Er kam ins Konzentrationslager Buchenwald und wurde dem Arbeitskommando „Dora“ zugeteilt, das ein gigantisches Stollensystem für die unterirdische Raketenproduktion erstellen sollten. Nagengast starb während dieser Arbeit unter unmenschlichen Bedingungen im Januar 1944. Nagengast, so der Stadtarchivar, sei auch ein Beispiel dafür, dass es nicht nur jüdische Opfer gegeben habe, an die die Stolpersteine erinnern – Nagengast war Katholik. Der § 175 existierte übrigens bis zum 11. Juni 1994.
Weiter geht es zur großen Kreuzung am Steinhagentor. Die Bredenscheider Straße trug zu jener Zeit den Namen „Straße der SA“ – der Rathausplatz hieß „Adolf-Hitler-Platz“. „Heute verwenden wir in Straßennamen oft die Namen von Tieren, Blumen, Dichtern und Denkern, um möglichst unproblematische und unpolitische Namen zu verwenden“, erklärt Weiß den Schülern. Weiter geht es zum Stolperstein von Emmy Roth, der jüdischen Kaufmannstochter, die als Silberschmiedin internationalen Ruhm erlangte. Gerade gibt es im Stadtmuseum eine Ausstellung über ihre Arbeiten. Auch über Emmy Roth hat der STADTSPIEGEL im Rahmen der „Wir sind Hattinger-Serie“ berichtet. Die Realschule Grünstraße beschäftigt sich seit vielen Jahren unter den aufmerksamen Blicken von Lehrerin Judith Nockemann mit dem Thema.
Immer wieder erklärt Thomas Weiß den Schülern Dinge, die vermutlich die meisten Hattinger nicht wissen. Oder hätten Sie gewusst, dass die Markierung auf der Freifläche vor dem Bügeleisenhaus der damaligen Häuserfront entspricht? Der Ort war auch Schauplatz eines Mordes: 1932 erschießen Mitglieder der SA am Flachsmarkt vor der KPD-Geschäftsstelle den Hattinger Bergmann Hubert Lubberich. Der Anhänger der Kommunistischen Partei wird das erste Opfer der Nationalsozialisten in Hattingen. Weiter geht es zum Synagogenplatz – vorbei am Gebäude der heutigen Weiltor-Apotheke. Einst war dies der größte Versammlungssaal in Hattingen und auch hier waren Hitler und Goebbels als Redner zu Gast. Am Synagogenplatz zeigt Thomas Weiß Kopien einer damaligen Broschüre des Heimatvereines. Neben der Synagoge gab es darin Bilder der NS-Größen – was denen überhaupt nicht passte und zu Schwärzungen der Synagogenadresse führte. Ein paar Jahre später, direkt nach dem Krieg, wurden in der gleichen Broschüre die NS-Größen geschwärzt – Geld und Papier für einen Neudruck hatte man noch nicht.
Über das Krämersdorf zieht die Gruppe weiter. Dort, wo sich heute das Café Mexx befindet, entstand das historische Foto mit Adolf Hitler auf der Treppe – damals war dort der „Hitlerkeller“ untergebracht. Thomas Weiß zeigt den Schülern den Judenstern von Mathilde Mühlhaus. Und noch etwas erstaunt die Schüler: Hattingen wurde mit einem Motiv der Burg Blankenstein 1935 offizielle Weihnachtsgrußkarte der Reichskanzlei… Mehr Geschichte zum Anfassen geht nicht.
Das Schülerprojekt wird von den Schülern selbst nicht nur in einer App gestaltet, sondern auch am heutigen Tag des Schulfestes, 7. Juli, ab 14 Uhr, im Gymnasium Holthausen gezeigt. Außerdem wird es im November zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht in der Gebläsehalle vorgestellt.

Autor:

Dr. Anja Pielorz aus Hattingen

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