Heiße Musik hilft auch in Jalna beim Operieren
Hier Mozarts „Kleine Nachtmusik“, da „Captain Marvel“ von Chick Corea, hin und wieder ein wenig Phil Collins, unterbrochen von Joe Cocker, Rammstein, James Blunt oder Rihanna. So klingt es nicht nur in Hattinger Operationssälen, wenn wir Patienten selig dem Ende des Eingriffs entgegenschlummern. Auch im indischen Jalna geht (fast) nichts ohne Musik, wenn heimische Ärzte kostenlos den Menschen dort ein buchstäblich menschenwürdigeres Leben durch (plastische) Operationen ermöglichen.
Seit 2006 engagiert sich der Hattinger Rotary-Club für das Jalna-Projekt, über das der STADTSPIEGEL ja bereits mehrfach berichtete. Jalna ist eine 240.000 Einwohner zählende Stadt im indischen Bundesstaat Maharashtra. Dorthin reist regelmäßig eine Gruppe von Medizinern aus dem Ruhrgebiet.
Am 22. Februar geht es wieder los. Über Düsseldorf machen sich von Hattingen aus Krankenschwester Rita Zeißler-Arns vom Ev. Krankenhaus und Anästhesist Detlef Cramer, bekannt als Keyboarder der bundesweit bekannten Band „Fritz Brause“, aus Bochum auf den Weg, der rund 48 Stunden bis zum Zielort Jalna dauern wird.
„Das Team verbringt dort einen Teil seines Jahresurlaubs, um Kinder mit Missbildungen der Hände und Füße, Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, akuten Verbrennungen und Verbrennungsfolgen kostenlos zu operieren“, fasst Dr. Gerhard Schlosser, Chefarzt für Anästhesie und Intensivmedizin im Ev. Krankenhaus Hattingen, zusammen.
Er selbst, der das ehrenamtlichen Engagement der Mediziner seit Jahren als „Einsatzleiter“ begleitet, wird krankheitsbedingt diesmal nicht dabei sein. Er bedauert das besonders, weil diese Tour die zehnte ist. Fürs Team, das in diesem Jahr durch zwei Chirurgen aus Essen und Bielefeld und einen OP-Pfleger aus Hamburg komplettiert wird, in Jalna zumindest.
Dr. Schlosser selbst ist seit 1993 mit einer Hilfsorganisation für Plastische Chirurgie in zahlreiche Schwellenländer und Länder der Dritten Welt gereist, um dort medizinische Hilfe zu leisten. Seit 2004 allerdings geht es – der Nachhaltigkeit wegen – nur noch ausschließlich nach Jalna.
Unterstützung dafür wird geleistet von den Rotary Clubs in Hattingen, Bombay Midtown und Jalna sowie den German Rotary Volunteer Doctors (GRVD).Von Anfang an halfen die guten Kontakte zum Jalna Mission Hospital, dessen Räumlichkeiten für OPs genutzt werden können.
„Fernweh“, lacht Detlef Cramer, als er seine Anfangsmotivation schildert, die ihn vor zehn Jahren zur Teilnahme am Projekt bewegt hatte. „Man arbeitet da so eng mit indischen Ärzten und Pflegern zusammen – viel enger, als man als Tourist mit Indern überhaupt zusammen kommen würde. Es ist für mich ein humanitärer Einsatz, bei dem wir auch noch Land und Leute kennenlernen. Wir freuen uns auf ein Wiedersehen mit den Menschen dort und sie freuen sich auf uns.“
Dabei ist der Aufenthalt in Indien für das gesamte Team alles andere als ein Erholungsurlaub. Detlef Cramer: „Wir versuchen uns selbst zu disziplinieren und nicht länger als zwölf Stunden täglich im OP zu stehen.“
Und die Arbeit, die beginnt gleich nach der zweitägigen Anreise. Diesmal allerdings haben die Hattinger Helfer – auch die anderen des Teams, die der berufliche Weg in andere deutsche Städte geführt hat, kommen ursprünglich von hier – darum gebeten, erst einmal drei Stunden in ihrem Stamm-Hotel durchschnaufen zu dürfen.
Aber dann geht es sofort ins Krankenhaus. „Dort warten die Leute schon auf uns – mit unglaublicher Geduld. Für die Menschen ist unsere Ankunft ein großes Ereignis, auch für die einheimischen Ärzte und Pfleger“, beschreibt Rita Zeißler-Arns. „Wir bekommen einen orangenen Punkt auf die Stirn gemalt, viele Blumen, natürlich Tee und Detlef noch seine geliebten Büffelmilch-Joghurts.“
Rund 300 Patienten sind es, die von den Krankenhaus-Ärzten bereits „gescreent“ wurden. Ihre deutschen Kollegen untersuchen diese ebenfalls noch einmal und bestimmen dann, welche von ihnen am dringendsten operiert werden müssen. Das richte sich nach der Schwere ihrer Betroffenheit, so die Vertreter des Teams.
„Die Inder sind wirklich sehr geduldig“, berichtet Detlef Cramer. „Einige kennen wir noch aus dem Vorjahr, in dem sie selbst nicht drangekommen sind, dies aber klaglos hingenommen haben. Man muss sich vor Augen halten, dass sie natürlich kein Telefon haben und manchmal nicht einmal ein Haus oder eine Wohnung. Für sie ist das alles sehr schwierig mit der Organisation. Aber wir sind für sie nun einmal die einzige Chance, ohne Geld Hilfe zu erhalten. Wir achten schon genau darauf, dass wir nur den wirklich Armen helfen. Da vertrauen wir aber auch auf die Vor-Auswahl unserer indischen Kollegen.“
Aber den Menschen, die teilweise von 300 Kilometern Entfernung kämen, wäre ihre Armut sowieso anzusehen, ergänzt Rita Zeißler-Arns: „Arme Menschen laufen seit Jahren barfuß und haben daher dicke Schwielen an den Füßen. Und die Füße, die sind schwarz, schwarz vor Schmutz. Seit einigen Jahren baden wir die Patienten jetzt vor den OPs, aber das hilft oft nicht wirklich. Außerdem wiegen arme erwachsene Männer in Indien höchstens um die 45 Kilo.“
Übrigens müssen sich die indischen Ärzte und Pfleger ebenfalls an das neue Arbeits-Tempo gewöhnen, das mit den deutschen Helfern einzieht. In der Hinsicht ticken die Uhren in Indien ganz anders als in Deutschland.
Aber sie ertragen diesen plötzlichen Stress mit Geduld, denn sie wissen ja seit Jahren, was in diesen 16 Tagen auf sie zukommt. Und am Ende winkt allen Helfern – vom Busfahrer über die Wäscher und Sauerstoffflaschen-Wechsler bis hin zum medizinischen Personal – eine kleine Anerkennung in Form einer Urkunde, die feierlich überreicht wird, und ein Geldbetrag in Höhe von rund 200 Euro, der für sie ein kleines Vermögen darstellt.
Das deutsche Team bekommt hingegen in Deutschland wenig zurück. Rita Zeißler-Arns hat da noch Glück: Sie darf fünf ihrer für den humanitären Einsatz genommenen Urlaubstage als Fortbildung anrechnen lassen, Detlef Cramer beispielsweise nicht.
Wenig zurück stimmt nicht ganz. Auch wenn die Bedingungen in „ihrem“ indischen Krankenhaus für deutsche Hygienestandards eine Katastrophe sind, Toilettenbesuche nur in Gummistiefeln möglich sind, Bettwäsche für die Patienten nie (!) gewechselt wird, die Böden auf den Krankenstationen unglaublich schmutzig sind und selbst der kürzlich errichtete OP-Trakt einen Standard wie bei uns im 19. Jahrhundert ausweist, begeistert alle im Team immer wieder die Freundlichkeit und Herzlichkeit der Menschen, ihre Dankbarkeit und Gelassenheit.
Die meisten Inder haben inzwischen auch verstanden, dass ihr Essen, das sie gerne mit ihren Helfern teilen würden, von diesen nicht vertragen wird. Auch dadurch ist die Quote der Durchfallerkrankungen bei den deutschen Helfern auf durchschnittlich ein bis zwei zurückgegangen.
Früher sei es schlimmer gewesen, erzählen die Hattinger. Jetzt wisse auch das Hotel-Personal, was die Deutschen vertrügen und was nicht. Schließlich habe niemand Interesse, dass sie länger ausfielen. Rita Zeißler-Arns isst in Jalna ausschließlich vegetarisch, nachdem sie einmal einen Basar besucht hat, die anderen Fleisch nur, wenn es sehr stark durchgebraten ist.
Einen Sonntag haben die deutschen Helfer frei. Dafür stellen die Inder jedes Jahr ein Besichtigungsprogramm zusammen. Detlef Cramer verzichtet allerdings in der Regel darauf, drei bis vier Stunden über indische Straßen geschaukelt zu werden. Er entspannt sich lieber im Hotel, in dem der Lautstärke draußen auf der Straße wegen vor Mitternacht allerdings nicht an Schlaf zu denken ist.
Und viel zu schnell für Ärzte, Pfleger und Patienten geht es auch schon wieder zurück nach Deutschland – viereinhalb Stunden Zeitverschiebung inklusive, die jedem Teammitglied in den ersten Nächten zu Hause mächtig in den Knochen sitzt.
Dennoch: Alle sind sich einig in ihrer Vorfreude auf Jalna 2013. Sinnvolles freiwillig zu tun sei ein starker Motivator, finden sie.
Jalna dankt‘s ihnen.
Autor:Roland Römer aus Hattingen |
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