Mein Wort zum Wochenende – Mit Kritik umgehen

In seinem Buch aus dem Jahre 1838, "Sämmtliche Werke, dritter Band: Erzählungen des rheinländischen Hausfreundes" erzählt Johann Peter Hebel uns diese Story:

Ein Mann reitet auf seinem Esel nach Haus und lässt seinen Buben zu Fuß nebenher laufen. Kommt ein Wanderer und sagt: "Das ist nicht recht, Vater, dass Ihr reitet und lasst Euren Sohn laufen; Ihr habt stärkere Glieder." Da stieg der Vater vom Esel herab und ließ den Sohn reiten. Kommt wieder ein Wandersmann und sagt: "Das ist nicht recht, Bursche, dass du reitest und deinen Vater zu Fuß gehen lässt. Du hast jüngere Beine." Da saßen beide auf und ritten eine Strecke. Kommt ein dritter Wandersmann und sagt: "Was ist das für ein Unverstand, zwei Kerle auf einem schwachen Tier. Sollte man nicht einen Stock nehmen, und euch beide hinabjagen?" Da stiegen beide ab und gingen dritt zu Fuß, rechts und links der Vater und Sohn, und in der Mitte der Esel. Kommt ein vierter Wandersmann und sagt: "ihr seid drei kuriose Gesellen. Ist's nicht genug, wenn zwei zu Fuß gehen? Geht's nicht, leichter, wenn einer von euch reitet?" Da band der Vater dem Esel die vordern Beine zusammen, und der Sohn band ihm die hintern Beine zusammen, zogen einen starken Baumpfahl durch, der an der Straße stand, und trugen den Esel auf der Achsel heim.
So weit kann's kommen, wenn man es allen Leuten will recht machen.

(Johann Peter Hebel, "Seltsamer Spazierritt, in "Sämmtliche Werke, dritter Band: Erzählungen des rheinländischen Hausfreundes" (Karlsruhe: Verlag der Chr. Fr. Müller'schen Hofbuchhandlung, 1838, pp. 11-12.)

Die Lehre aus der Geschichte: Man kann es nie allen recht machen. Wenn man es versucht, kann es unangenehme Konsequenzen haben.

Hebel hat diese Fabel nicht erfunden, sie ist weit älter, stammt vermutlich aus dem 13. Jahrhundert.
In einigen Variationen dieser uralten Fabel endet der Versuch noch tragischer: Der Esel fällt ins Wasser und ertrinkt.

Psychologisch/soziologisch betrachtet gibt die Geschichte aber weit mehr her.
Warum hat der Mann seine Handlung nicht verteidigt? Er hätte ja z. B. sagen können: „Ich reite auf dem Esel, weil ich alt und schlecht zu Fuß bin, mein Sohn hat junge Beine, ist gesund und kann gut laufen, der Esel ist stark und gut im Futter und dazu da, Lasten zu tragen.“
Stattdessen ändert er sofort sein kritisiertes Verhalten, er gibt nach.
Hier ergeben sich Fragen wie:
Ist er ein unsicherer, ängstlicher Mensch? Mangelt es ihm am nötigen Selbtvertrauen?

Ein Soziologe erkennt in der Geschichte beispielsweise die Probleme des sozialen Einflusses anderer auf Individuen und die Frage nach Gehorsam und Konformität.
Wie leicht sind Leute in einer Gesellschaft zu beeinflussen?

Hier nur soviel: Es ist ratsam, Dinge so zu tun, wie man es selbst für richtig hält. Das wird von vielen als Tugend verstanden, im Sinne von: Dinge tun, die niemand tut oder Dinge, die jeder macht, auf eine Weise tun, wie es niemand tut.

Deswegen ist auch Frank Sinatra`s Song „I did it my way“ einer meiner großen Favoriten.

In diesem Sinne wünsche ich allen ein entspanntes, eigenwilliges Sommerwochenende!

Autor:

Ulrich Jean Marré, M.A. aus Essen-Ruhr

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