Mit Stadtarchivar Thomas Weiß, Stadtführer Lars Friedrich und Benedikt Weiß
Trümmerwanderung durch Hattingen
Jedes Jahr am Volkstrauertag wird der Opfer des Krieges gedacht. Dazu gehören Menschen und Städte. Hattingen erlebte fünf schwere Bombenangriffe 1943, 1944 und dreimal im Frühjahr 1945. Insgesamt mussten Stadt und Bevölkerung 1300 Fliegeralarme erleiden. Stadtarchivar Thomas Weiß, Lars Friedrich von Hattingen zu Fuß und Benedikt Weiß spazierten mit rund 40 Menschen durch die Hattinger Innenstadt zu Orten und ließen mit Hilfe von Zeitzeugen-Berichten und historischen Fotos die Betrachter in die Vergangenheit eintauchen.
Von 5700 Wohnungen in Hattingen vor dem Krieg wurden bis auf 400 alle von ihnen zerstört oder schwer beschädigt. Zu Kriegsbeginn glaubte allerdings kaum jemand daran, dass es die kleine Stadt an der Ruhr so schlimm treffen könnte. „Für viele Bewohner war Hattingen ein kleines Paradies. Die Zerstörung und Bombardierung brachte man eher mit den großen Städten in Verbindung. Kaum einer glaubte, dass Hattingen in diesem Zusammenhang eine Bedeutung haben könnte“, erklärt Stadtarchiar Thomas Weiß. Doch die Menschen sollten sich täuschen. Hattingen hatte die Henrichshütte, die bereits früh in die Rüstungsindustrie eingebunden und daher auch ein Ziel der Bomben war. Und weil Bomben nicht immer passgenau ins Ziel trafen, wurde weite Teile der Stadt in Mitleidenschaft gezogen. Wurde die Luke der Bomber zehn Sekunden zu früh geöffnet und die tödliche Fracht abgeworfen, dann waren eben Stadtteile und nicht die Henrichshütte getroffen. Spätestens ab 1943 war den Hattingern dann klar, dass sie nicht im Paradies oder auf einer abgeschiedenen Insel lebten: Im Mai 1943 trafen erstmals Bomben die Stadt Hattingen und verursachten Schäden an über 1000 Häusern. Es gab erste Tote. Nur wenige Tage später rollte eine zweite Katastrophe auf die Ruhrstadt zu. In der Nacht des 16./17.05.1943 führte das britische Bomber Command die „Operation Chastise" ("Züchtigung") gegen fünf Talsperren im Sauerland und im Waldecker Land durch. Dabei wurde die von 1908 bis 1913 erbaute, 40 m hohe und 650 m lange Staumauer der Möhne-Talsperre, bis heute einer der größten Talsperren in Deutschland, zerstört. Eine gewaltige Flutwelle erreichte Hattingen.
Durch Zeitzeugen-Berichte, beispielsweise von Dr. Erich Jüthe, weiß man, wie es damals gewesen sein muss. Vor dem Hattinger Hochbunker am Reschop, dessen Bau 1941 begann und der Mitte 1944 in Betrieb genommen wurde, liest Benedikt Weiß aus dem Meldebuch, in dem die Luftangriffe sorgsam dokumentiert wurden: Quasi im Minutentakt wurden Meldungen gemacht – öffentliche Luftwarnung, Entwarnung, Fliegeralarm, Entwarnung, Flakfeuer, Leuchtkugeln, Bombenabwurf – kamen die Geschwader von Süden, so brachte dies Hattingen Unheil. Der Heimatkundler Hans-Dieter Pöppe gehört zur Gruppe der Zuhörenden. Er kam in diesem Bunker zur Welt. „Man hat mir erzählt, die Krankenhäuser seien alle voll gewesen und meine Mutter wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Und in diesem Bunker sollte eine Art Geburtshilfe oder Hebamme vor Ort sein. Und so kam sie hierher und ich wurde hier geboren.“
Hattingen in Schutt und Asche
Der 14. März 1945 – ein strahlender Frühlingstag, der ein jähes Ende fand mit einem 16minütigen Barmbardement auf Hattingen. 1200 Sprengbomben und 144 Tote. Am 18. März und am 21. März folgten weitere schwere Angriffe auf die Stadt. Die war danach zu einem großen Teil zerstört. Und in diese zerstörte Stadt kamen trotzdem Tausende von Menschen. „Sie kamen aus den Großstädten und später auch aus dem Osten. Sie flohen vor dem Unheil und trafen hier ebenfalls auf starke Zerstörung. Nach den Angriffen 1945, die auch das Rathaus der Stadt Hattingen stark in Mitleidenschaft zogen, arbeiteten Verwaltungsmitarbeiter teilweise mit einem Regenschirm über dem Kopf. Der Sitzungssaal war ausgebombt und man erzählt, die Fußböden seien mit Planken belegt gewesen, um überhaupt irgendwie von einem Büro trockenen Fußes in ein anderes zu gelangen“, so Thomas Weiß. Lars Friedrich ergänzt, man müsse wohl davon ausgehen, dass das Aufräumkommando aus Zwangsarbeitern bestanden habe. „1944 arbeiteten rund 9000 Menschen auf der Henrichshütte. Die Hälfte von ihnen war als Zwangsarbeiter dort“, so Lars Friedrich. Immer wieder zeigen die drei an unterschiedlichen Orten der Stadt schwarz-weiß Fotos von genau dem Platz, an dem die Gruppe heute steht und zuhört.
Die Psyche der Menschen zum Kriegsende liegt am Boden – wie die Gebäude der Stadt. Auf den Treppenstufen des Rathauses berichten die drei Experten von sechs Kriegsgefangenen, die bei Plünderung erwischt, auf dem Rathaushof erschossen und in Bombenkratern verscharrt wurden. Sie erzählen von dem damaligen Leiter der Hattinger Polizei, der hunderte von Toten erleben musste. Sie berichten von ausgefallenen Gedenkfeiern und immer wieder vom hastigen „Verscharren“ der Verstorbenen auf den Friedhöfen. „Man sieht Gebeine… man fühlt die Eile der Bestattung“, so steht es geschrieben. Während des Rundgangs stehen auch wir auf dem Friedhof an der Roonstraße vor Gräbern derjenigen, die in Hattingen während des Krieges starben.
Am 8. Mai 1945 ist alles vorbei. Hattingen versinkt in Schutt und Asche – im Sinne des Wortes. Gigantische Berge von Schutt werden aufgeschichtet. Loren transportieren das, was per Hand nicht machbar ist. Und was noch irgendwie zu gebrauchen ist, wird für den Wiederaufbau genutzt.
Autor:Dr. Anja Pielorz aus Hattingen |
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