Thema Flüchtlinge: Syrer sind es gewohnt, für sich selbst zu sorgen
Riyad Rifaie hat syrische Wurzeln. Er selbst wurde in Essen geboren und kennt das Land, von dem jetzt alle Welt spricht, nur von Urlaubsbesuchen, um die Familie seines Vaters zu sehen. Aber er kennt natürlich viele Syrer und nimmt Anteil an dem Schicksal der Flüchtlinge.
Der STADTSPIEGEL hat ihm einige Fragen gestellt.
STADTSPIEGEL: Gab es einen Anstieg der syrischen Flüchtlinge? Es gibt doch schon seit fünf Jahren dort Krieg?
Rifaie: Es gab sehr wohl einen Anstieg. Grund hierfür sind zum einen die schlechten Verhältnisse in den Flüchtlingslagern in den Anrainerstaaten (Libanon, Jordanien, Türkei), da dort die Hilfen des UNHCR seit längerem dramatisch gekürzt worden sind und die Lebensverhältnisse kaum tragbar sind.
Ein weiterer Grund sind die bestehenden Kämpfe der verschiedensten Kräfte in Syrien, die keinerlei Rücksicht auf die Bevölkerung nehmen, sondern diese als menschliche Schutzschilde benutzen. Da eine Lösung des Konflikts in noch weitere Ferne gerät, entscheiden sich die Menschen zu fliehen.
Oft verkaufen die Menschen vor Ort landwirtschaftliche Grundstücke oder Sachwerte wie Autos oder Schmuck. Viele Syrer können sich von Angehörigen Geld leihen. Die soziale Struktur untereinander ist stärker als z.B. in deutschen Familien. Einige Flüchtlinge haben mir auch erzählt, dass sie fast ein Jahr in der Türkei gearbeitet haben, um so die Kosten für die Flucht zu bezahlen.
Können die Kinder in Syrien noch zur Schule gehen?
Einige Städte (z.B. Damaskus) haben noch eine funktionierende Infrastruktur, viele Schulen auf dem Land sind jedoch aufgrund von Geldmangel oder substanziellen Beschädigungen der Gebäude geschlossen. In einigen Bereichen des Landes ist die Sicherheitslage so prekär, dass man wochenlang nicht aus dem Haus gehen kann, so dass natürlich auch die Schule nicht besucht werden kann. Oder die Schulen sind aufgrund von Personalmangel geschlossen. Neben den rund 11 Millionen Flüchtlingen, also die Hälfte der knapp 22 Millionen Einwohner, sind seit Beginn des Konflikts rund 250.000 Menschen getötet worden, die Gefangenen und Verschollenen nicht miteingerechnet.
Glauben Sie, dass mehr syrische Flüchtlinge kommen?
Es ist schwer einzuschätzen, ob noch mehr Flüchtlinge nach Europa kommen. Ich denke, es werden weiterhin viele Menschen in die Anrainerstaaten fliehen, da dort die Sprachbarriere nicht so hoch und auch die Kultur bekannt ist. Da ist die Versorgungslage zwar nicht viel
besser als in Syrien selber, aber es fallen zumindest keine Bomben vom Himmel.
Ältere und Ärmere bleiben
zurück, da ein Neuanfang ohne Sprachkenntnisse und mit schlechten Berufsaussichten schwer sein wird.
Gibt es Anträge auf Familienzusammenführung?
Da oftmals das Geld nicht reicht, um die Flucht für alle Familienangehörigen zu finanzieren, nehmen meist Männer den gefährlichen und langen Weg auf sich, um nach Europa zu kommen. Im Anschluss möchten diese dann ihre Familie durch einen Antrag auf Familienzusammenführung zu sich holen. Da die deutsche Botschaft gerade im Libanon sehr überlastet ist, dauert eine solche Familienzusammenführung aber sehr lange. Ein junger Syrer hat mir erst vor kurzem erzählt, dass er den Antrag für seine Frau und sein drei Jahre altes Kind vor zwei Monaten gestellt hat. Termin bei der Botschaft, ist für April 2016 vorgemerkt.
Was sollten wir über die syrischen Flüchtlinge wissen?
Die syrischen Flüchtlinge sind Kriegsflüchtlinge, die zum Teil alles verloren haben. Fast jeder von Ihnen hat ein persönliches Schicksal erlitten: Sei es, dass ein Familienmitglied getötet, gefoltert, vergewaltigt oder grundlos inhaftiert wurde. Oder sei es, dass man sein Haus oder seine Wohnung verloren hat. Lebensmittel und Wasser sind nicht überall und in ausreichendem Maße vorhanden. Man kann natürlich nicht ausschließen, dass unter den Flüchtlingen Menschen sind, die herkommen, um auf Kosten anderer ein besseres Leben zu führen. Aus meiner Erfahrung aber kann ich sagen, dass alle Flüchtlinge die ich bislang kennengelernt habe, mehr als motiviert sind, die Sprache zu lernen, um so schnell wie möglich auf eigenen Beinen stehen zu können. In Syrien gibt es in dem Sinne keine soziale Hilfe vom Staat. Syrer sind es gewohnt, für Ihren und den Lebensunterhalt Ihrer Angehörigen selbst aufzukommen. Natürlich gibt es arme Menschen, vergleichbar mir denen, die hier Anspruch auf Sozialhilfe haben. Aber sie werden von ihrer Familie unterstützt. Viele Flüchtlinge haben in Syrien vor dem Krieg ein mehr als ausreichendes Einkommen gehabt und in einem mit unseren Verhältnisse vergleichbaren Standard gelebt. Diesen aufzugeben, Familie und Freunde zurücklassen, würde hier auch niemand machen, wenn es nicht um sein Leben geht.
Autor:Dr. Anja Pielorz aus Hattingen |
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