Vorstellungsgespräch 2012
Franzbranntwein soll angeblich bei schwitzenden Händen wirken. Davon merkte Paul in diesem Moment nichts. Mindestens dreimal hatte er heute Morgen seine Hände damit abgerieben. Jetzt waren sie wieder feucht. Er ging in dem kleinen Vorraum auf und ab, ignorierte die verstaubten Plastikpflanzen, und versuchte tief und lange ein- und auszuatmen. Dies würde sein drittes Vorstellungsgespräch in dieser Woche sein und er hoffte inständig, dass es diesmal klappen würde. Erst vor vier Wochen war er Vater geworden und er brauchte jetzt dringender denn je einen neuen Job. Seine alte Firma war unerwartet in den Konkurs geschlittert. Seitdem lief er Tag für Tag von einer Firma zu andren und war bereit alles anzunehmen, was man ihm anbot.
Er rückte noch einmal seine Krawatte zurecht. Die Tür ging auf und eine extragestylte, junge Frau bat ihn einzutreten. Paul folgte der Aufforderung und sah sich Sekunden später dem Human Resources Manager, Tyler von Brausenbach, gegenüber. „Nehmen Sie Platz. Ich habe Ihre Bewerbungsunterlagen soeben durchgesehen. Abi mit 1,9 ist nicht soo berauschend. Ging das nicht besser?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Aber gut, Sie haben genügend Referenzen aus zahlreichen Firmen.“ Er sah über die Gläser seiner Designerhalbglasbrille und fragte: „Was hat Sie bewogen, hier bei uns vorstellig zu werden?“
Paul holte unmerklich Luft. „Ich sehe Ihre Firma sehr innovativ und ich kann mir vorstellen, ein vollwertiges Mitglied Ihrer Belegschaft zu werden. Außerdem meine ich, für diese Anstellung überaus qualifiziert zu sein.“
„Hmm ...“, der Personalleiter musterte Paul. „Welches Werkzeug benutzen Sie?“
Ohne zu zögern, sagte Paul: „Nur die Pistole. Ich bin perfekt auf diesem Gebiet.“
Von Brausenbach runzelte die Stirne. „Welche Ladung?“
Jetzt wurde Paul sehr viel sicherer. Er kannte sich gut aus und er war sich sicher, in diesem Bereich unschlagbar zu sein. „Ausschließlich H2O und C2H5OH mit einem Hauch Lavendel“, antwortete er.
„Einen Hauch Lavendel? Ist das nicht ein bisschen, sagen wir mal, extravagant?“ Tyler von Brausenbach zog die Augenbrauen hoch, stand auf und seine Stimme klang sehr geschäftig: „Nun gut, das ist interessant und eine Überlegung wert. Unser Gehaltsvorschlag - 1 Euro pro Stunde - ist in Ordnung?“ Auch hier wartete er eine Antwort gar nicht erst ab und fuhr fort: „Sie sind immerhin schon 36 Jahre, da muss man nehmen, was man kriegen kann – nicht wahr? Sie werden in den nächsten Tagen von uns hören. Es stehen noch eine Menge andere Bewerber für die ausgeschriebene Anstellung als Building Cleaner zur Auswahl.“
@Monika Thaler
Autor:Monika Thaler aus Hattingen |
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