Warum es im Alter so schwer fällt, den Führerschein abzugeben
Kreis. Wenn Menschen ab 75 Jahre in einen Unfall verwickelt sind, haben sie ihn meist auch selbst verursacht. Trotzdem wollen viele Senioren nicht aufs Auto verzichten. Was steckt dahinter? Und wie können Angehörige ihnen die Einsicht erleichtern? TÜV NORD informiert. 70 Prozent der Deutschen wollen, dass ältere Autofahrer regelmäßig ihre Fahrtüchtigkeit unter Beweis stellen müssen.
Das ergab eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid im Auftrag der "Bild am Sonntag". Gesetzliche Vorgaben sind jedoch nicht in Sicht; die Politik setzt auf Vernunft und Einsicht der Betroffenen. Immerhin haben im Jahr 2015 mehr als 11.000 Deutsche über 65 Jahre ihren Führerschein freiwillig abgegeben, wie "Bild am Sonntag" berichtet.
Ältere Menschen sehen schlechter und reagieren langsamer. Aber fahren sie tatsächlich unsicherer? Auf den ersten Blick spricht die Statistik dagegen: Jeder fünfte Pkw-Fahrer, der 2015 einen Unfall verschuldete, war zwischen 18 und 24 Jahre, und nur jeder dreizehnte war 65 Jahre oder älter, gibt der ADAC bekannt. Dabei machen die Senioren gut ein Fünftel der Bevölkerung aus.
Allerdings berücksichtigt dieser Vergleich nicht, dass sich viele Ältere nur noch selten oder für kurze Strecken ans Steuer setzen. Entsprechend anders sehen die Zahlen aus, wenn man nur jene Unfälle betrachtet, bei denen Menschen starben oder verletzt wurden. Waren Pkw-Fahrer ab 75 Jahre beteiligt, hatten diese den Unfall in drei Viertel der Fälle auch verursacht – bei weitem häufiger als alle anderen Altersgruppen, wie der ADAC erläutert.
Von solchen Zahlen lassen sich ältere Menschen allerdings kaum beeindrucken. Aufs Auto zu verzichten oder sogar den Führerschein abzugeben, kommt für viele überhaupt nicht in Frage. "Dahinter steckt das menschliche Streben nach Autonomie", erklärt Dr. Ralf Buchstaller von TÜV NORD. Unabhängig zu sein und selbstbestimmt zu leben, zählt zu den menschlichen Grundbedürfnissen. "Von anderen abhängig zu sein, kann die Selbstachtung schmälern", erläutert der promovierte Psychologe weiter.
Führerschein und ein eigenes Auto erleichtern das Erfüllen weiterer Bedürfnisse: Lebensmittel einkaufen, Kontakte aufrechterhalten, Hobbys nachgehen. Es geht aber nicht nur ums Praktische. Dass die Gemüter beim Thema Fahrerlaubnis schnell hochkochen, hat auch mit ihrem symbolischen Wert zu tun. "Der Führerschein markiert für die meisten Heranwachsenden den Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen", so Dr. Buchstaller. Mit seinem Verlust werde der Erwachsene auf symbolischer Ebene wieder zum Kind. Wenn die Sinne und Kräfte allmählich nachlassen, bleibt die Fahrerlaubnis als konkret greifbares Symbol für die Selbstbestimmtheit, erläutert der Psychologe. "Deshalb halten sich manche an ihr wie an einer Rettungsboje fest."
Selbstbestimmt leben zu können, bildet die Basis der erwachsenen Identität. Laut dem Psychoanalytiker Erik H. Erikson entwickeln schon kleine Kinder den Wunsch, die Welt nach eigenem Wollen und Wünschen erkunden zu können. Werden sie in ihrem Autonomiestreben eingeschränkt und können nicht an der Welt der Erwachsenen teilhaben, fühlen sie sich beschämt und minderwertig. Wenn das Alter seinen Tribut fordert, kann das ähnliche Empfindungen hervorrufen. Entsprechend schmerzhaft sei das Eingeständnis, sei es sich selbst oder anderen gegenüber. "Von den eigenen Kindern möchte man sich sowieso nicht sagen lassen, was man nicht mehr kann."
Deswegen empfiehlt Dr. Buchstaller, den Wunsch nach Autonomie und Selbstachtung zunächst einmal anzuerkennen. "Besorgte Angehörige sollten darauf verzichten, die Schwächen offenzulegen und Vernunft einzufordern." Vielmehr gelte es, andere Quellen der Selbstachtung zu fördern und zu stärken, vor allem das Gefühl, sozial eingebunden zu sein und auf anderen Gebieten selbstbestimmt und kompetent zu leben. Denn das kann helfen, die veränderte Situation anzunehmen und mit dem Verlust souverän umzugehen.
Nicht zuletzt steht dem Verzicht aufs Auto noch ein weiteres menschliches Phänomen entgegen: Was der Mensch einmal besaß, will er nicht mehr missen. Schon nach kürzester Zeit empfinden wir Privilegien als selbstverständlich, wohlverdient und unverzichtbar. Angehörige könnten deshalb mit gutem Beispiel vorangehen. Nahezu jeder hängt an Gewohnheiten oder Annehmlichkeiten, die ungesund oder unvernünftig sind, aber vermeintlich unentbehrlich. Auf das ein oder andere davon zu verzichten, ist eine gute Vorbereitung auf das wirklich Unvermeidliche: das Altern.
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